Entscheidungsstichwort (Thema)
Beratung über einen nicht nachgelassenen Schriftsatz im Wege der Telefonkonferenz. Betriebsänderung. Nachteilsausgleich
Orientierungssatz
Die Beratung über einen nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz im Wege einer Telefonkonferenz des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, die an der letzten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, ist zulässig, wenn es sich um eine bloße Nachberatung handelt, die die mündliche Beratung der Richter nicht ersetzt, sondern – im Hinblick auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz – nur neben sie tritt.
Normenkette
GVG § 193 Abs. 1, § 194; ZPO §§ 156, 547 Nr. 1; ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1; BetrVG §§ 111, 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1; GVG § 193; BetrVG § 113
Verfahrensgang
LAG München (Urteil vom 27.11.2013; Aktenzeichen 8 Sa 381/13) |
ArbG München (Urteil vom 18.01.2013; Aktenzeichen 33 Ca 6310/12) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 27. November 2013 – 8 Sa 381/13 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revision noch über einen Nachteilsausgleich.
Die Beklagte ist eine zum Konzern Süddeutsche Zeitung gehörende Zeitungsvertriebsgesellschaft. Ihr Unternehmensgegenstand bestand darin, im Gebiet der Landeshauptstadt München für die Verlage Münchner Zeitungsverlag und Süddeutsche Zeitung deren Zeitungen auszutragen und vergleichbare Dienstleistungen auszuführen. Sie beschäftigte etwa 40 Arbeitnehmer, ua. den als schwerbehinderten Menschen anerkannten Kläger als Zeitungszusteller gegen ein Bruttomonatsentgelt von zuletzt 750,00 Euro.
Einziger Auftraggeber der Beklagten war die Süddeutsche Zeitung Logistik GmbH (SZL GmbH), eine 100%ige Tochter der Süddeutsche Zeitung GmbH. Nachdem diese den Dienstleistungsauftrag zum 29. Februar 2012 gekündigt hatte, beschlossen die Gesellschafterinnen der Beklagten – die H GmbH und die Süddeutsche Zeitung GmbH – am 12. Januar 2012, den Geschäftsbetrieb zum Ablauf des 29. Februar 2012 einzustellen und den Betrieb stillzulegen. Ab dem 1. März 2012 wurden die Zusteller nicht mehr beschäftigt. Seit diesem Zeitpunkt führt die ZVM GmbH die Zustellungen aus.
Der Vorsitzende einer von der Beklagten und dem bei ihr bestehenden Betriebsrat errichteten Einigungsstelle zu den Themen „Interessenausgleich und Sozialplan” stellte in der Sitzung am 27. April 2012 das Scheitern des Versuchs fest, sich auf einen Interessenausgleich zu einigen. Am 28. April 2012 kündigte die Beklagte die Arbeitsverhältnisse sämtlicher bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer mit Ausnahme des Klägers. Gegenüber diesem sprach sie die Kündigung nach erteilter Zustimmung des Integrationsamts am 23. Mai 2012 zum 31. Dezember 2012 aus.
Der Kläger hat sich mit seiner Klage gegen die Kündigung gewandt und eine Stilllegung des Betriebs in Abrede gestellt; dieser sei vielmehr auf die ZVM GmbH übergegangen. Nach Abweisung der Kündigungsschutzklage durch das Arbeitsgericht hat er mit seiner Berufung hilfsweise einen Nachteilsausgleichsanspruch geltend gemacht.
Der Kläger hat – soweit für die Revision noch von Bedeutung – sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm einen Nachteilsausgleich iSd. § 113 BetrVG in Höhe von 13.500,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, den Antrag abzuweisen.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers mit einem am 27. November 2013 verkündeten Urteil zurückgewiesen. Mit seiner auf die Abweisung des Antrags auf Nachteilsausgleich beschränkten Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Der von ihm geltend gemachte absolute Revisionsgrund liegt nicht vor. Das Landesarbeitsgericht hat auch in der Sache zu Recht erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich hat.
I. Entgegen der Auffassung der Revision unterliegt das Berufungsurteil nicht bereits deshalb der Aufhebung nach § 562 ZPO, weil die erkennende Berufungskammer im Hinblick auf den vom Kläger nach Schluss der mündlichen Verhandlung und vor Verkündung des Urteils eingereichten Schriftsatz vom 7. November 2013 über diesen und über die Frage einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung im Wege einer Telefonkonferenz beraten und entschieden hat. Hierin liegt weder der absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 547 Nr. 1 ZPO iVm. § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG) noch ein Verstoß gegen § 193 Abs. 1, § 194 GVG.
1. Ein absoluter Revisionsgrund iSv. § 547 Nr. 1 ZPO ist gegeben, wenn das Landesarbeitsgericht nicht unter Mitwirkung derjenigen Richter, die an der letzten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, geprüft hat, ob nach Schluss der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangene Schriftsätze der Parteien gemäß § 156 ZPO Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gaben. Selbst wenn ein solcher nachgereichter Schriftsatz bei der Entscheidung über das Urteil keine Beachtung mehr finden kann, weil das Urteil nach abschließender Beratung und Abstimmung bereits gefällt (§ 309 ZPO) war, hat das Gericht bis zur Urteilsverkündung eingehende Schriftsätze zur Kenntnis zu nehmen und eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu prüfen. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren haben im Fall eines nachgereichten Schriftsatzes die ehrenamtlichen Richter an der Entscheidung über eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung mitzuwirken (vgl. BAG 25. Januar 2012 – 4 AZR 185/10 – Rn. 14 ff.; 18. Dezember 2008 – 6 AZN 646/08 – Rn. 4 ff., BAGE 129, 89). Ist dies nicht der Fall, wird der Prozesspartei, die den Schriftsatz verfasst hat, der gesetzliche Richter entzogen (vgl. BAG 18. Dezember 2008 – 6 AZN 646/08 – Rn. 7, BAGE 129, 89). Bei einem hierin liegenden Verfahrensmangel iSd. § 547 Nr. 1 ZPO wird unwiderleglich vermutet, dass er entscheidungserheblich ist.
2. Aus § 193 Abs. 1 GVG ergibt sich, dass die Entscheidung eines Kollegialgerichts auf einer Beratung und Abstimmung der zur Entscheidung berufenen Richter beruhen muss. § 194 GVG bestimmt die bei der Beratung und Abstimmung einzuhaltende Verfahrensweise. Die mündliche Beratung im Beisein sämtlicher beteiligter Richter ist dabei die Regel (vgl. BAG 18. Januar 2012– 7 ABR 72/10 – Rn. 63; BGH 20. April 2012 – LwZR 5/11 – Rn. 8). In geeigneten Fällen kann eine Nachberatung im Wege einer Telefonkonferenz zulässig sein, bei welcher unter der Leitung des Vorsitzenden jeder Teilnehmer von seinem Telefonapparat zeitgleich mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren kann und alle Teilnehmer die gesamte Kommunikation mithören. Voraussetzung ist, dass alle beteiligten Richter mit dieser Verfahrensweise einverstanden sind und sichergestellt ist, dass jederzeit in eine mündliche Beratung im Beisein aller Richter eingetreten werden kann, falls ein Richter dies wünscht oder ein neuer Gesichtspunkt es erfordert (BAG 26. März 2015 – 2 AZR 417/14 – Rn. 12 mwN; BGH 29. November 2013 – BLw 4/12 – Rn. 33). Die Telefonkonferenz vermag die mündliche Beratung bei gleichzeitiger Anwesenheit aller beteiligten Richter allerdings nicht zu ersetzen. Sie kann nur neben diese treten, wie etwa bei der Beratung über einen nachträglich eingegangenen Schriftsatz. Die erstmalige Beratung als einzige Grundlage für die Entscheidung in der Hauptsache muss zwingend im Beisein sämtlicher beteiligter Richter stattfinden (vgl. BAG 26. März 2015 – 2 AZR 417/14 – aaO; BGH 29. November 2013 – BLw 4/12 – aaO).
3. Eine Rechtsverletzung iSv. § 73 ArbGG, § 547 Nr. 1 ZPO ist vom Revisionsgericht wegen § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO nur zu beachten, wenn die Revision (auch) auf sie gestützt wird (BAG 24. Oktober 2013 – 2 AZR 1057/12 – Rn. 13, BAGE 146, 257). Der Revisionsführer muss darlegen, dass der gerügte absolute Revisionsgrund tatsächlich vorliegt. Das setzt die Angabe von Tatsachen voraus, aus denen sich der behauptete Verfahrensmangel ergeben soll. Handelt es sich dabei um gerichtsinterne Vorgänge, muss der Revisionsführer zumindest aufzeigen, dass er eine zweckentsprechende Aufklärung versucht hat (vgl. BAG 18. Januar 2012 – 7 ABR 72/10 – Rn. 58). Auch bei der Beanstandung, ein Urteil sei entgegen § 193 Abs. 1, § 194 GVG nicht aufgrund geheimer Beratung und Abstimmung der zur Entscheidung berufenen Richter ergangen, muss die hierin liegende Verfahrensrüge nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO die Bezeichnung der Tatsachen enthalten, die den Mangel ergeben, auf den sich die Revision stützen will.
4. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Art und Weise, in welcher das Berufungsgericht über den nach der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz des Klägers beraten hat, rechtlich nicht zu beanstanden.
a) Ausweislich des handschriftlichen Vermerks des Vorsitzenden des Berufungsgerichts vom 25. November 2013 hat die Kammer in der Besetzung der mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 2013 „per Telefonkonferenz” am 25. November 2013 über den zuvor den ehrenamtlichen Richtern zugeleiteten Schriftsatz des Klägers vom 7. November 2013 beraten und beschlossen, „daß die Wiedereröffnung nicht veranlaßt, sondern die niedergelegte Entscheidung zu verkünden ist”.
b) Die Beratung über den nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz im Wege der am 25. November 2013 abgehaltenen Telefonkonferenz des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, die an der letzten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, war zulässig. Es handelte sich um eine bloße Nachberatung. Sie hat die mündliche Beratung der Richter nicht ersetzt, sondern ist – im Hinblick auf den nicht nachgelassenen Schriftsatz des Klägers – nur neben sie getreten. Das Fehlen einer mündlichen Beratung über die auf der Grundlage der mündlichen Verhandlung am 30. Oktober 2013 gefällte, am 27. November 2013 verkündete Entscheidung rügt die Revision nicht. Hiervon ist angesichts der in der Akte dokumentierten und unter der Zeile „München, den 30.10.2013” vom Vorsitzenden und den ehrenamtlichen Richtern unterzeichneten Urteilsformel auch nicht auszugehen.
c) Ohne Erfolg beanstandet die Revision, es sei vom Berufungsgericht weder angegeben, wie die Telefonkonferenz stattgefunden habe, noch ob die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt gewesen sind. Ein darauf gerichteter Verfahrensmangel ist schon nicht hinreichend dargelegt. Zudem ist in dem Aktenvermerk des Vorsitzenden der Berufungskammer die Art und Weise der Beratung als „Telefonkonferenz” dokumentiert. Das drückt eine Beratung aus, bei welcher unter der Leitung des Vorsitzenden jeder Teilnehmer von seinem Telefonapparat zeitgleich mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren kann und alle Teilnehmer die gesamte Kommunikation mithören. Auch das Einverständnis sämtlicher beteiligter Richter mit dieser Art und Weise der Beratung über den nachgereichten Schriftsatz und die Möglichkeit, in eine mündliche Beratung im Beisein aller Richter einzutreten, kommen in einem so gefassten Aktenvermerk zum Ausdruck (vgl. BGH 29. November 2013 – BLw 4/12 – Rn. 35).
II. Das Landesarbeitsgericht hat den vom Kläger mit seiner Berufung angebrachten Antrag auf Nachteilsausgleich zu Recht abgewiesen.
1. Nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Der Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG dient vornehmlich der Sicherung des sich aus § 111 Satz 1 BetrVG ergebenden Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats und schützt dabei mittelbar die Interessen der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer. Er entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (BAG 16. August 2011 – 1 AZR 44/10 – Rn. 9 mwN). Nach § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG gilt als Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 1 BetrVG ua. die Stilllegung des ganzen Betriebs. Dagegen ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Betriebsübergang als solcher keine Betriebsänderung iSd. § 111 BetrVG. Er kann eine sein, wenn er sich nicht allein in dem Wechsel des Betriebsinhabers erschöpft, sondern gleichzeitig Maßnahmen ergriffen werden, welche eines oder mehrere der Tatbestandsmerkmale des § 111 BetrVG erfüllen (vgl. BAG 11. November 2010 – 8 AZR 169/09 – Rn. 33 mwN; 25. Januar 2000 – 1 ABR 1/99 – zu B I 3 der Gründe).
2. Der Kläger hat sich – im Zusammenhang mit seiner Kündigungsschutzklage – zwar nur auf einen Betriebsübergang berufen. Zu seinen Gunsten kann aber unterstellt werden, dass die Beklagte ihren Betrieb eines Unternehmens mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern stillgelegt und damit eine Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 1 und Satz 3 Nr. 1 BetrVG durchgeführt hat sowie der Kläger infolge der Stilllegung entlassen worden ist. Jedenfalls hat die Beklagte mit dem Betriebsrat vor der Durchführung der Betriebsänderung einen Interessenausgleich versucht iSv. § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG.
a) Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit. Ihre Umsetzung erfolgt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift (BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 17, BAGE 118, 222). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt (vgl. BAG 23. September 2003 – 1 AZR 576/02 – zu II 1 c der Gründe mwN, BAGE 107, 347).
b) Die Beklagte hat vor dem am 27. April 2012 durch den Vorsitzenden der Einigungsstelle als gescheitert festgestellten Versuch eines Interessenausgleichs keine unumkehrbaren Maßnahmen zur Durchführung der Betriebsänderung ergriffen.
aa) Mit dem von ihren Gesellschafterinnen am 12. Januar 2012 gefassten Beschluss hat die Beklagte die Durchführung der Betriebsstilllegung nicht begonnen. Dem Arbeitgeber ist es nicht verwehrt, ohne vorherige Beteiligung des Betriebsrats Entschlüsse zu einer Betriebsänderung zu fassen. Er darf nur ohne Wahrung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats nicht mit deren Durchführung beginnen. § 113 Abs. 3 BetrVG sichert kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats an der unternehmerischen Entscheidung, sondern nur bei deren Umsetzung. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach § 111 BetrVG setzen sogar voraus, dass der Arbeitgeber konkrete Planungen hinsichtlich einer Betriebsänderung hat, die den Gegenstand der zwischen den Betriebsparteien zu führenden Verhandlungen vorgeben (vgl. BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 19, BAGE 118, 222). Daher spricht auch die von der Revision vorgebrachte Kenntnis der Beklagten spätestens am 29. Februar 2012 davon, dass die Arbeitsplätze der Mitarbeiter entfallen würden, nicht für das Vorliegen einer unumkehrbaren Maßnahme zur Durchführung der Betriebsänderung.
bb) In der tatsächlichen Einstellung der betrieblichen Tätigkeit am 1. März 2012 liegt gleichfalls keine unumkehrbare Maßnahme. Die bloße Einstellung einer Geschäftstätigkeit kann grundsätzlich rückgängig gemacht werden. Anders ist dies ggf. dann zu sehen, wenn ein Arbeitgeber – etwa durch die Veräußerung von Betriebsmitteln – bereits mit der Auflösung der betrieblichen Organisation beginnt (vgl. BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 20, BAGE 118, 222). Dafür ist hier nichts ersichtlich.
cc) Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass die Beklagte die Zusteller ab dem 1. März 2012 nicht mehr beschäftigt hat. In der bloßen Nichtbeschäftigung von Arbeitnehmern liegt keine Auflösung der Betriebsorganisation. Auch eine Freistellung der Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht stellt regelmäßig noch keine Durchführung der Betriebsstilllegung dar. Dies gilt jedenfalls, wenn die Freistellung jederzeit widerruflich ist (vgl. BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 21, BAGE 118, 222). Eine unwiderrufliche Freistellung sämtlicher – oder auch nur eines Großteils der – Arbeitnehmer vor dem Ausspruch der Kündigungen hat der Kläger weder konkret behauptet noch ist sie sonst ersichtlich.
dd) Die ab dem 1. März 2012 erfolgte Übernahme des vormals der Beklagten erteilten Zeitungsvertriebsauftrags durch die ZVM GmbH lässt nicht auf die Durchführung der Betriebsstilllegung vor dem Versuch eines Interessenausgleichs schließen. Sie ist der Neuvergabe des Auftrags geschuldet.
ee) Nichts anderes folgt aus dem – erstmals in der Revision gehaltenen – Vortrag des Klägers, die Beklagte habe bei einem Antrag auf Zustimmung zu einer beabsichtigten (erneuten) Kündigung eines anderen Arbeitnehmers nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in einem entsprechenden Formular des Integrationsamtes als Betriebsstilllegungszeitpunkt den 29. Februar 2012 angegeben. Zu diesem Zeitpunkt stellte die Beklagte ihre betriebliche Tätigkeit ein. Für einen über diesen Erklärungswert hinausgehenden Schluss auf tatsächliche Umstände gibt das Formular nichts her.
ff) Das Vorbringen des Klägers, die Beklagte sei „kein selbständiger Betrieb, sondern Betriebsteil” der SZL GmbH, lässt nicht auf eine Durchführung der Betriebsänderung vor dem Versuch eines Interessenausgleichs schließen. Die Stilllegung eines einem Unternehmen zuzuordnenden Betriebs„teils” kann – bezogen auf einen mit einem anderen Unternehmen geführten Gemeinschaftsbetrieb – grundsätzlich die Voraussetzungen einer mitbestimmungspflichtigen Änderung nach § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG erfüllen (vgl. hierzu BAG 11. November 1997 – 1 ABR 6/97 – zu II der Gründe). Von dem Vorliegen einer interessenausgleichspflichtigen Maßnahme gehen die Parteien aber übereinstimmend aus. Streitig ist allein, ob mit ihrer Durchführung vor dem Interessenausgleichsversuch begonnen worden ist.
gg) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht schließlich angenommen, dass der Beginn der Durchführung der Betriebsänderung nicht in der Kündigung des Zustellungsauftrags durch die SZL GmbH zum 29. Februar 2012 liegt. Die Beklagte muss sich diese Kündigung bei dem hier vorliegenden Konzernsachverhalt nicht als „eigene” Maßnahme zurechnen lassen (vgl. hierzu die Urteile des Senats vom 14. April 2015 in den Parallelverfahren – 1 AZR 794/13 – und– 1 AZR 795/13 –). Die Revision rügt deshalb ohne Erfolg, das Landesarbeitsgericht habe seine Aufklärungs- und Hinweispflicht nach § 139 ZPO verletzt und hätte die mündliche Verhandlung nach § 156 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO wieder eröffnen müssen, weil es den Kläger nicht auf das Fehlen von Vortrag zur Konzernstruktur und dessen Bedeutung in dem vorliegenden Fall hingewiesen hat.
c) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Die Beklagte hat den Abschluss eines Interessenausgleichs ausreichend versucht. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Betriebsparteien über den Abschluss eines Interessenausgleichs verhandelt haben und der Vorsitzende einer hierzu gebildeten Einigungsstelle am 27. April 2012 das Scheitern eines Versuchs des Interessenausgleichs festgestellt hat. Die Kündigungen der Arbeitsverhältnisse, in denen der Beginn der Durchführung der Betriebsstilllegung liegt, sind erst am 28. April 2012 erfolgt.
Unterschriften
Schmidt, Koch, K. Schmidt, Dr. Klebe, Klosterkemper
Fundstellen
Haufe-Index 8299364 |
NJW 2015, 3738 |
JR 2017, 546 |
NZA 2015, 1212 |
AP 2016 |
EzA-SD 2015, 15 |
EzA 2015 |
AUR 2015, 376 |
AP-Newsletter 2015, 210 |