Entscheidungsstichwort (Thema)
Sprungrevision. Anspruch auf Pauschallohn bei Vertretung
Leitsatz (amtlich)
Der als Kraftfahrer eingesetzte Arbeiter hat im Vertretungsfalle nur dann Anspruch auf Fortzahlung des Pauschallohnes (§ 30 Abs. 6 MTB II, § 3 Kraftfahrer-TV vom 5. April 1965), wenn er auch während der Vertretungszeit eine Kraftfahrertätigkeit ausübt.
Normenkette
MTB II § 9 Abs. 4, § 30 Abs. 6; Kraftfahrer-TV vom 5. April 1965 §§ 3-4, 6
Verfahrensgang
ArbG Heilbronn (Urteil vom 09.12.1986; Aktenzeichen 4 Ca 54/86) |
Tenor
- Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 9. Dezember 1986 – 4 Ca 54/86 – aufgehoben.
- Die Klage wird abgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger auch für die Zeit der Vertretung des Fahrbereitschaftsleiters Pauschallohn nach dem Tarifvertrag für die Kraftfahrer des Bundes vom 5. April 1965 zusteht.
Der Kläger ist seit 1965 im Gerätedepot S… der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit und arbeitsvertraglicher Vereinbarung der Manteltarifvertrag für die Arbeiter des Bundes vom 27. Februar 1964 (MTB II) und der Tarifvertrag für die Kraftfahrer des Bundes vom 5. April 1965 (Kraftfahrer-TV) in ihrer jeweils gültigen Fassung Anwendung. Im MTB II ist u.a. folgendes geregelt:
“ § 9
Allgemeine Pflichten
…
Wird einem Arbeiter vertretungsweise eine höher zu bewertende Tätigkeit, die ihn überwiegend in Anspruch nimmt, für mehr als zwei aufeinanderfolgende Arbeitstage übertragen, so erhält er vom ersten Tage an bei Vertretung eines Arbeiters den Lohn der seiner Tätigkeit entsprechenden Lohngruppe – ggf. einschließlich der Vorarbeiter-, Vorhandwerker- oder Lehrgesellenzulage –, bei Vertretung eines Angestellten oder Beamten zu seinem Lohn eine Vertretungszulage von 10 vom Hundert des Monatstabellenlohnes der Stufe 4 seiner Lohngruppe bzw. 10 vom Hundert des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Monatstabellenlohnes der Stufe 4 seiner Lohngruppe. …”
Der Kraftfahrer-TV hat, soweit es hier interessiert, folgenden Wortlaut:
“ § 3
- Für die Kraftfahrer wird gemäß § 30 Abs. 6 MTB II ein Pauschallohn festgesetzt, mit dem der Monatstabellenlohn sowie der Lohn für Mehrarbeit und Überstunden (§ 30 Abs. 5 in Verbindung mit § 27 Abs. 1 Buchst. a MTB II) abgegolten sind. …
§ 4
- Der Pauschallohn richtet sich nach der durchschnittlichen Monatsarbeitszeit (§ 2 Abs. 1) im vorangegangenen Kalenderhalbjahr, bei Fahrern, die im vorangegangenen Kalenderhalbjahr nicht als Kraftfahrer i. S. dieses Tarifvertrages beschäftigt waren, bis zum Schluß des laufenden Kalenderhalbjahres nach der Arbeitszeit (§ 2 Abs. 1) im jeweiligen Kalendermonat. …
§ 6
Beginnt oder endet das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Kalendermonats oder steht der Pauschallohn aus einem sonstigen Grunde nicht für den ganzen Kalendermonat zu, wird nur der Teil des Pauschallohnes, der ständigen Lohnzulagen im Sinne des § 21 Abs. 4 Satz 1 MTB II und des Sozialzuschlags gezahlt, der auf den Anspruchszeitraum entfällt.
Protokollnotiz:
Ein sonstiger Grund i. S. dieser Vorschrift ist auch die Teilnahme an Manövern und ähnlichen Übungen (Anlage 1 zum MTB II, Anhang zur SR 2a MTB II und entsprechende Vorschriften).”
Zu dem Kraftfahrer-TV ordnete der Bundesminister des Innern am 29. Juni 1977 unter dem Aktenzeichen – D III 2-220 503/42 – (GMBl 1977, 372) einen Durchführungserlaß an, der u.a. folgenden Inhalt hat:
“
- 6. Zu § 4 Abs. 2:
- …
- Ich bin damit einverstanden, daß die in Absatz 2 Unterabs. 2 Buchst. a und b angegebenen Stunden darüber hinaus auch bei Teilnahme des Kraftfahrers an Wehrübungen sowie bei Vertretungen von Fahrbereitschaftsleitern, Tankwarten oder Hallenmeistern angesetzt werden.”
Im Jahre 1984 war der Kläger in der Lohngruppe III des Lohngruppenverzeichnisses zum MTB II eingestuft und erhielt einen monatlichen Pauschallohn nach der Pauschalgruppe II (10 Stunden) in Höhe von 2.949,35 DM gemäß der Anlage zum Kraftfahrer-TV. Im ersten Kalenderhalbjahr 1984 leistete der Kläger monatlich zwischen 199 und 224 Stunden.
In der Zeit vom 30. Juli bis 17. August 1984 vertrat der Kläger auf Weisung der Beklagten den Fahrbereitschaftsleiter des Gerätedepots S…, einen Angestellten, dessen Tätigkeit der Vergütungsgruppe VIII BAT entspricht. Aufgrund einer verspäteten Mitteilung über diese Vertretungstätigkeit berechnete die Beklagte erst im November 1984 dem Kläger eine 10 %ige Vertretungszulage zu dem genannten Pauschallohn und zahlte diesen Betrag aus. Anschließend zog die Beklagte mit der folgenden Lohnabrechnung dem Kläger einen Betrag von 330,92 DM brutto vom Dezemberlohn mit der Begründung ab, in der Vertretungszeit habe dieser keine Kraftfahrertätigkeit ausgeübt, so daß ihm dafür auch nicht der Monatspauschallohn nach dem Kraftfahrer-TV zustehe. Der Kläger forderte die Beklagte daraufhin noch im Dezember 1984 erfolglos auf, den Abzugsbetrag an ihn zu zahlen.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe auch für die Zeit der Vertretung des Fahrbereitschaftsleiters vom 30. Juli bis 17. August 1984 Anspruch auf Zahlung des Pauschallohnes nach dem Kraftfahrer-TV. Dies folge aus § 9 Abs. 2 MTB II, § 4 des Kraftfahrer-TV und dem Durchführungserlaß des Bundesministers des Innern zu § 4 Abs. 2 Kraftfahrer-TV.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 330, 92 DM brutto Restlohn für 1984 zuzüglich 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit 11. Februar 1986 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und die Auffassung vertreten, der Kläger habe während der Vertretungszeit lediglich Anspruch auf den Monatstabellenlohn der Lohngruppe III zuzüglich der 10 %igen Vertretungszulage aus der Stufe 4 seiner Lohngruppe. Ein Anspruch auf Kraftfahrerpauschallohn bestehe nur, wenn Kraftfahrertätigkeit ausgeübt werde. Der Durchführungserlaß des Bundesministers des Innern stelle lediglich eine Besitzstandsregelung für das folgende neu zu berechnende Kalenderhalbjahr dar, dem insoweit Ausnahmecharakter zukomme. Im übrigen sei der Erlaß eine bloß intern wirkende Verwaltungsanordnung.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Sprungrevision im Urteil zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte den Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
I. Die Sprungrevision ist zulässig. Die Voraussetzungen des § 76 ArbGG sind erfüllt. Insbesondere hat der Kläger seine Zustimmung zur Sprungrevision ordnungsgemäß erteilt (§ 76 Abs. 1 Satz 1 ArbGG), da ungeachtet des in der Revisionsinstanz bestehenden Anwaltszwanges auch der Vertreter der Gewerkschaft, der den Kläger vertreten hat (§ 11 Abs. 1 ArbGG), die Zustimmungserklärung wirksam abgeben konnte (BAGE 40, 228, 231 = AP Nr. 3 zu § 76 ArbGG 1979).
II. Die Sprungrevision ist auch begründet. Der Kläger hat für die Zeit der Vertretung des Fahrbereitschaftsleiters vom 30. Juli bis 17. August 1984 keinen Anspruch auf Lohn nach der Pauschalgruppe II des Kraftfahrer-TV. Die Beklagte hat deshalb zu Recht die dem Kläger zunächst gezahlten 330,92 DM brutto im Wege der Aufrechnung wieder eingezogen (§§ 611 ff., 387 ff. BGB).
1. Nach § 9 Abs. 4 Unterabs. 2 MTB II hat der Arbeiter bei Vertretung eines Angestellten “zu seinem Lohn” Anspruch auf “eine Vertretungszulage von 10 vom Hundert des Monatstabellenlohnes der Stufe 4 seiner Lohngruppe”. Der Tarifvertrag regelt damit den Vertretungsfall eines Arbeiters, für den allein der MTB II Anwendung findet. Dieser bekommt seinen bisherigen Lohn und die in § 9 Abs. 4 MTB II genannte Zulage. Die Tarifbestimmung gibt jedoch keine Antwort auf die Frage, ob ein Kraftfahrer, der nach den Bestimmungen des Kraftfahrer-TV entlohnt wird, während einer Vertretung in einem anderen Aufgabenbereich wie bisher den Pauschallohn oder lediglich den Monatstabellenlohn seiner Lohngruppe erhält. Auch die Bestimmungen des Kraftfahrer-TV enthalten darüber keine Regelung. Insoweit bedürfen die Tarifnormen des MTB II und des Kraftfahrer-TV der Auslegung.
2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 40, 228, 234 = AP Nr. 3 zu § 76 ArbGG 1979). Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, oder auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung vgl. statt vieler BAGE 42, 86, 89 = AP, aaO; BAGE 42, 244, 253 f. = AP Nr. 2 zu § 21 TVAL II).
3. In Anwendung dieser Grundsätze ist zunächst davon auszugehen, daß sich der Lohn des Klägers als Pauschallohn nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Kraftfahrer-TV gemäß § 30 Abs. 6 MTB II nach den Pauschalgruppen I bis IV bestimmt, womit der Monatstabellenlohn sowie der Lohn für Mehrarbeit und Überstunden abgegolten ist. Dies gilt jedoch nur dann, wenn und soweit der Kläger den Regelungen des Kraftfahrer-TV unterliegt. Ein Anspruch auf Kraftfahrerpauschallohn kann schon begrifflich erst dann entstehen, wenn tatsächlich Kraftfahrertätigkeit ausgeübt wird. Übt der Arbeiter dagegen überwiegend andere Tätigkeiten aus, hat er gemäß § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 1 Tarifvertrag über das Lohngruppenverzeichnis zum MTB II lediglich Anspruch auf den seiner überwiegend ausgeübten Tätigkeit entsprechenden Monatstabellenlohn (§ 21 Abs. 3 MTB II). Dies ist aber der nach Lohngruppen und Dienstzeit gestaffelte Lohn. Das gleiche folgt auch daraus, daß der Pauschallohn nach dem Kraftfahrer-TV die Pauschalierung von Überstundenvergütung unter Berücksichtigung der generell bei der Tätigkeit von Kraftfahrern anfallenden Arbeitsbereitschaft darstellt (BAGE 25, 426, 428 = AP Nr. 2 zu § 19 MTB II). Fallen die für einen Kraftfahrer typischen Tätigkeiten mit Arbeitsbereitschaft und Überstunden aber nicht mehr an, entfällt nach Sinn und Zweck der Regelung auch der Grund für die Gewährung einer Pauschalvergütung.
4. Dieser Auslegung stehen auch nicht die Bestimmungen des § 6 Kraftfahrer-TV entgegen. Nach dieser Vorschrift wird nur der Teil des Pauschallohnes, der auf den Anspruchszeitraum entfällt, gezahlt, wenn das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Kalendermonats beginnt oder endet oder wenn der Pauschallohn aus einem sonstigen Grunde nicht für den ganzen Kalendermonat zusteht. Die tariflich ausnahmsweise angeordnete Lohnteilung innerhalb eines Monats, die auch die ständigen Lohnzulagen und den Sozialzuschlag nach § 41 MTB II betrifft, reduziert damit den Vergütungsanspruch des Kraftfahrers, wenn der Anspruch nicht für den vollen Kalendermonat besteht. Der Anwendungsbereich der tariflichen Regelung erstreckt sich aber nach ihrer umfassenden Formulierung über die Begründung und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses im ganzen im Laufe eines Kalendermonats hinaus auch auf die Fälle, in denen ein Anspruch auf Pauschallohn aus sonstigen Gründen, vorliegend bei Nichtausübung der Kraftfahrertätigkeit, nicht besteht. Entgegen der Auffassung des Klägers ändert hieran auch nichts der Erlaß des Bundesinnenministers vom 29. Juni 1977. Dieser Erlaß ordnet nämlich lediglich an, daß die während der Vertretungstätigkeit ausgefallenen Kraftfahrerstunden in dem dieser Vertretung folgenden Kalenderhalbjahr bei der Berechnung des dann zu zahlenden Kraftfahrerpauschallohnes fiktiv zu berücksichtigen sind.
5. Schließlich ändert sich an diesem Ergebnis auch nichts durch die Protokollnotiz zu § 6 Kraftfahrer-TV. Aus dieser Ergänzung folgt lediglich, daß ein sonstiger Grund im Sinne des § 6 Kraftfahrer-TV auch die Teilnahme an Manövern und ähnlichen Übungen sein kann. Für die Teilnahme hieran erhält der Arbeiter je Kalendertag nach den angegebenen besonderen tariflichen Regelungen als Abgeltung seiner Arbeitsleistung einen Pauschalbetrag in Höhe des 15-fachen des auf die Stunde entfallenden Anteils des Monatstabellenlohnes. Dieser Pauschbetrag schließt – ähnlich wie der Kraftfahrerpauschallohn – den Lohn für Überstunden, Mehrarbeit, Wechselschicht, Arbeitsbereitschaft sowie sonstige Zeitzuschläge ein. Die Protokollnotiz stellt damit klar, daß dem Arbeiter neben der “Manöverpauschalentlohnung” kein Kraftfahrerpauschallohn zusteht (Scheuring/Steingen, MTB II, Stand Januar 1989, Bd. 2, § 6 Kraftfahrer-TV Rz 2). Für den “Vertretungsfall”, der nicht mit einer Kraftfahrertätigkeit verbunden ist, gibt die Protokollnotiz zu § 6 Kraftfahrer-TV somit nichts her. Nach alledem kann sich der Kläger daher auch nicht auf seinen “Besitzstand” berufen.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Unterschriften
Dr. Röhsler, Dr. Jobs, Schneider, Marx, Dr. Sponer
Fundstellen
Haufe-Index 872090 |
RdA 1989, 380 |