Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %

 

Normenkette

EFZG § 4 Abs. 1, 4 n.F.

 

Verfahrensgang

LAG Saarland (Urteil vom 13.05.1998; Aktenzeichen 2 Sa 244/97)

ArbG Saarlouis (Urteil vom 05.11.1997; Aktenzeichen 1 Ca 437/97)

 

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Saarland vom 13. Mai 1998 – 2 Sa 244/97 – wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der Kläger ist bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin seit dem 16. Mai 1995 als gewerblicher Arbeitnehmer in der Funktion eines sog. Springers beschäftigt. Er erhält einen Stundenlohn von 19,30 DM brutto. Der Kläger war in der Zeit vom 5. Oktober bis 10. November 1996 und an 53,2 Stunden im Februar 1997 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines Lohnes. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller – rechnerisch unstreitiger – Höhe.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden gemäß § 2 des Arbeitsvertrages vom 17. Januar 1996 die vom Rheinischen Unternehmerverband Neuwied für die Beklagte abgeschlossenen bzw. übernommenen Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Für die Beklagte geltende Firmen-Verbandstarifverträge stammen vom 11. Juni 1986, 15. März 1989 und 19. Mai 1994. Nach Ziff. 1 des Tarifvertrages vom 15. März 1989 wurde für die Beklagte u.a. der Rahmentarifvertrag für die Steine-und-Erden-Industrie vom 10. Februar 1989 (RTV 1989) übernommen. Im Tarifvertrag vom 19. Mai 1994 wurde dies mit bestimmten Modifikationen bestätigt. Der RTV 1989 enthält in seinen Ziffern 126 ff. Regelungen über “Krankheit und Betriebsunfall”, in Ziffern 208 ff. Bestimmungen über die “Vergütung für Urlaub, Krankheit, Freistellung von der Arbeit und gesetzliche Feiertage”. Die Vorschriften lauten auszugsweise wie folgt:

“Krankheit

126. Wird der Arbeitnehmer durch Krankheit arbeitsunfähig, so wird der Verdienst nach den gesetzlichen Bestimmungen weitergezahlt.

127. Die Berechnung erfolgt nach Ziff. 208-214, bei Angestellten nach dem Durchschnittsverdienst der vorhergehenden 3 Kalendermonate.

Bei Anwendung dieser Berechnungsbestimmungen ist die Lohnfortzahlung des erkrankten Arbeitnehmers so zu berechnen, daß er nicht besser oder schlechter gestellt ist, als wenn er in dieser Zeit weiter im Betrieb arbeiten würde. Gegebenenfalls ist eine Vergleichsrechnung vorzunehmen.

Betriebsunfall

131. Bei Betriebsunfällen, die eine Krankheitsdauer von mehr als sechs Wochen zur Folge haben, erhält der Arbeitnehmer für die 7. und 8. Krankheitswoche einen Krankengeldzuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem Krankengeld … und dem Nettoarbeitsentgelt.

Berechnung des Bruttoverdienstes

208. Bruttoverdienst ist der Arbeitslohn, den der Arbeitnehmer in den vorhergehenden drei Kalendermonaten (oder den entsprechenden Lohnzahlungszeiträumen) für verfahrene Stunden bezogen hat.

Zum Bruttoverdienst zählt der Bruttolohn einschl. Überstundenvergütungen, Zuschlägen …, Erschwerniszulagen und sonstige Zulagen.

Zum Bruttoverdienst zählen nicht:

8. Fortgezahlter Lohn bei Krankheit nach dem Lohnfortzahlungsgesetz

9. Feiertagsvergütungen

209. Der so ermittelte Bruttoverdienst wird durch die Zahl der tatsächlich verfahrenen, tariflich vereinbarten regelmäßigen Stunden geteilt.

Der sich ergebende Stundenverdienst wird mit der Zahl der ausgefallenen Tarifarbeitsstunden multipliziert und ergibt den für jeden Ausfalltag zu vergütenden Lohnsatz.

…”

Mit Wirkung vom 1. Januar 1997 haben die Parteien des Rahmentarifvertrages die bisherigen Ziffern 126, 127 und 209 durch folgende Regelungen ersetzt:

“Ziffer 126

Abweichend von Paragraph 4 Abs. 1 EFZG in der Fassung vom 25.09.1996 beträgt die Höhe der Entgeltfortzahlung 100 vom Hundert. Die materielle Berechnung der Entgeltfortzahlung erfolgt nach Ziff. 208 bis 214.

Ziffer 127

Im übrigen gelten für die Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit infolge Erkrankung oder Betriebsunfall, bei Kuren und bei ärztlich verordneten Schonzeiten, die gesetzlichen Vorschriften.

Ziffer 209

Der so ermittelte Bruttoverdienst wird durch die Zahl der tatsächlich verfahrenen Stunden geteilt.

Der sich ergebende Stundenverdienst wird mit der Zahl der ausgefallenen Tarifarbeitsstunden multipliziert und ergibt den für jeden Ausfalltag zu vergütenden Lohnsatz.

…”

Für die Beklagte schlössen der Rheinische Unternehmerverband Steine und Erden e.V. Neuwied und die zuständige Gewerkschaft am 5. Mai 1998 einen Rahmentarifvertrag, der mit Wirkung vom 1. Juni 1998 ebenfalls die ungekürzte Entgeltfortzahlung vorsieht. Am selben Tag vereinbarten die Tarifvertragsparteien eine “Tarifvertragliche Übergangsregelung”. Sie enthält folgende Bestimmung:

“Die Abwicklung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für den Zeitraum 1. Oktober 1996 bis 31. Mai 1998 wird wie folgt geregelt:

Aufgrund des Rahmentarifvertrages Ziff. 126 – alte Fassung, gültig bis 31.05.1998 – findet das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung – hier vom 25. September 1996 – Anwendung.”

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, ihm stünden für die Zeiten seiner Arbeitsunfähigkeit 100 % seines Lohns zu. Die einschlägigen tariflichen Bestimmungen enthielten eine eigenständige Regelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Sie führten zur Fortzahlung in ungekürzter Höhe. Daran habe § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nichts geändert.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 825,82 DM brutto zzgl. 4 % Zinsen aus 617,60 DM seit dem 15. April 1997 und aus weiteren 208,22 DM seit dem 22. April 1997 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, Ziff. 126 RTV 1989 in seiner bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung verweise auf die gesetzlichen Bestimmungen in ihrer jeweiligen und nicht nur in ihrer bei Tarifabschluß geltenden Fassung. Die übrigen tariflichen Vorschriften zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthielten lediglich Berechnungsvorschriften. Wegen Ziff. 127 Satz 2 RTV 1989 wichen sie vom gesetzlichen Lohnausfallprinzip im Ergebnis nicht ab. Sie seien deshalb ebenfalls nicht konstitutiv. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien sei auch im Februar 1997 noch der RTV 1989 anzuwenden. Erst mit Wirkung vom 1. Juni 1998 hätten die Tarifvertragsparteien für sie – die Beklagte – einen Tarifvertrag vereinbart, der die Höhe der Entgeltfortzahlung wie der Rahmentarifvertrag 1997 regele.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Höhe der dem Kläger zustehenden Lohnfortzahlung bestimmt sich für beide Krankheitszeiträume nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in der seit dem 1. Oktober 1996 geltenden Fassung. Zwar stellen Ziff. 127, 208, 209 RTV 1989 eigenständige Regelungen über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Nach Maßgabe der “Tarifvertraglichen Übergangsregelung” vom 5. Mai 1998 fanden diese im streitbefangenen Zeitraum auf das Arbeitsverhältnis der Parteien jedoch keine Anwendung.

I. Im Zeitpunkt des Abschlusses des RTV 1989 und bis zum Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 galt für die Entgeltfortzahlung gewerblicher Arbeitnehmer im Krankheitsfall das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969. Angestellte hatten Anspruch auf Gehaltsfortzahlung nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I, S. 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG “80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”.

Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (vgl. BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179/80).

II. Nach Ziff. 126 RTV 1989 wird der Verdienst des Arbeitnehmers, wird dieser durch Krankheit arbeitsunfähig, “nach den gesetzlichen Bestimmungen weitergezahlt”. Diese tarifliche Bestimmung stellt keine selbständige Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Es handelt sich entweder um einen bloßen Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht, bei dem schon jeglicher Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlt, oder es handelt sich zwar um eine Tarifnorm, die jedoch als dynamische Verweisung auch für die Tarifunterworfenen nur die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften für anwendbar erklärt. Als Tarifnorm im Sinne einer statischen Verweisung auf die bei Tarifabschluß im Februar 1989 geltende Fassung des Lohnfortzahlungsgesetzes kann Ziff. 126 RTV 1989 dagegen nicht verstanden werden. Dies ergibt ihre Auslegung (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 1998 – 5 AZR 462/98 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).

III. Eigenständige Regelungen über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthalten dagegen Ziff. 127 i.V.m. Ziff. 208, 209 RTV 1989. Die Bestimmungen sind zwar unter Geltung des Lohnfortzahlungsgesetzes vereinbart worden. Sie sind aber auch nach dessen Außerkrafttreten weiterhin gültig. Die Tarifvertragsparteien haben in Ziff. 208, 209 RTV 1989 eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen. Mit der Verknüpfung von Berechnungsmethode und Berechnungsgrundlage mit einem Divisor (der Zahl der im Referenzzeitraum tatsächlich verfahrenen Arbeitsstunden) und anschließend mit einem bestimmten Faktor (der Zahl der durch Krankheit ausgefallenen Arbeitsstunden) haben sie zwangsläufig auch die Höhe der Entgeltfortzahlung mit 100 % der entsprechenden Vergütung festgelegt. Aus Ziff. 127 RTV 1989 folgt nichts anderes. Gemäß Satz 2 der Regelung ist das sich nach Ziff. 208, 209 RTV 1989 errechnende Ergebnis derjenigen Vergütung – nach oben oder nach unten – anzupassen, die der Arbeitnehmer erzielt hätte, wenn er im Krankheitszeitraum tatsächlich gearbeitet hätte. Dadurch ist die ungekürzte Lohnfortzahlung sogar ein weiteres Mal tariflich vorgegeben worden (zu Einzelheiten vgl. erneut Senatsurteil vom 16. Dezember 1998 – 5 AZR 462/98 –).

IV. Auf der Grundlage des RTV 1989 hätte der Kläger damit für beide Krankheitszeiträume Anspruch auf ungekürzte Lohnfortzahlung. Darauf, daß die ab dem 1. Januar 1997 geltenden Entgeltfortzahlungsregelungen des Rahmentarifvertrages 1997 mangels automatischer Übernahme erst durch den Firmen-Verbandstarifvertrag vom 5. Mai 1998 auch auf die Beschäftigten der Beklagten erstreckt worden sind, käme es nicht an.

Auf die entsprechenden tariflichen Bestimmungen des RTV 1989 kann sich der Kläger indessen nicht berufen. Zwar galt dieser Tarifvertrag für die Beschäftigten der Beklagten bis zum 31. Mai 1998 grundsätzlich weiter. Für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall haben die Tarifvertragsparteien jedoch eine spezielle Regelung getroffen. Sie haben mit der “Tarifvertraglichen Übergangsregelung” vom 5. Mai 1998 “die Abwicklung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für den Zeitraum 1. Oktober 1996 bis 31. Mai 1998” festgelegt. Diese soll in der Weise erfolgen, daß “aufgrund des Rahmentarifvertrages Ziff. 126 – alte Fassung – gültig bis 31.05.1998 – das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung – hier vom 25. September 1996 – Anwendung (findet)”. Auf diesem Wege haben die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung für die Beschäftigten der Beklagten während des genannten Übergangszeitraums der gesetzlichen Höhe angeglichen.

1. Aus dem Wortlaut der Übergangsregelung vom 5. Mai 1998 ergibt sich dies allerdings zunächst nicht eindeutig. Die Tarifvertragsparteien haben lediglich festgelegt, daß “aufgrund des Rahmentarifvertrages Ziffer 126” das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 25. September 1996 Anwendung findet. Die Übergangsregelung stellt also eine Verständigung der Tarifvertragsparteien allein über die Auslegung von Ziff. 126 RTV dar. Die Bestimmung soll danach wie eine dynamische Verweisung oder ein Hinweis auf das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung angesehen werden. So ist sie im übrigen auch nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung zu verstehen (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 1998 – 5 AZR 462/98 –, aaO). Dagegen werden die Ziff. 127, 208, 209 RTV von der Übergangsregelung nicht berührt. Gerade aus ihnen folgt aber die Verpflichtung des Arbeitgebers zur ungekürzten Lohnfortzahlung. So betrachtet, ist diese Verpflichtung unverändert bestehen geblieben.

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß es im Eingangssatz der Übergangsregelung heißt, es werde durch sie für den genannten Zeitraum “die Abwicklung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall” geregelt. Die anschließende Übereinkunft zu Ziff. 126 RTV muß deshalb im Zusammenhang mit diesem Eingangssatz ausgelegt werden. Durch die Anwendung des Entgeltfortzahlungsgesetzes “in seiner jeweiligen Fassung – hier vom 25. September 1996 –” sollte für die Zeit vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Mai 1998 im Unternehmen der Beklagten die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall “abgewickelt” werden. Ein Problem “abzuwickeln”, bedeutet, es einer endgültigen Lösung zuzuführen. Zum Problem geworden war seit dem 1. Oktober 1996 die Höhe der Entgeltfortzahlung nach Maßgabe der Regelungen des RTV 1989. Dazu wollten demnach die Tarifvertragsparteien für die Beschäftigten der Beklagten eine abschließende Regelung treffen. Sie haben sich im Rahmen von Ziff. 126 RTV auf die Anwendung des Entgeltfortzahlungsgesetzes in der Fassung vom 26. September 1996 verständigt. Diese Gesetzesfassung wiederum enthält als zentrale, jedem Arbeitnehmer bekannte Neuregelung die Absenkung der Lohnfortzahlung auf 80 %. Tarifvertragsparteien, die die “Abwicklung der Entgeltfortzahlung” in dieser Weise geregelt haben, haben darum letztlich schon dem Wortsinn nach die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 % begrenzt.

2. Das Ergebnis der Wortsinn-Auslegung wird durch weitere Umstände bestärkt.

a) Die Tarifvertragsparteien haben zeitgleich mit der Übergangsregelung mit Wirkung vom 1. Juni 1998 einen Rahmentarifvertrag für die Beschäftigten der Beklagten geschlossen. Darin wird die ungekürzte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausdrücklich festgelegt. Hätten sie eine solche Regelung bereits für die Zwischenzeit seit dem 1. Oktober 1996 gewollt, wäre unverständlich, warum sie gleichwohl eine – auch formell – eigenständige Übergangsregelung mit dem ausdrücklichen Verweis auf das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 25. September 1996 getroffen haben. Es hätte nähergelegen, die einschlägigen Bestimmungen des Rahmentarifvertrags vom 5. Mai 1998 schon mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 für anwendbar zu erklären.

b) Käme der tariflichen Übergangsregelung nicht die Bedeutung einer abschließenden Festlegung der Höhe der Entgeltfortzahlung auf 80 % zu, so wäre ferner fraglich, welcher Sinn und Zweck ihr überhaupt beizumessen wäre. Offensichtlich wollten die Tarifvertragsparteien mit ihrer Übereinkunft einen Auslegungsstreit beilegen. Sie haben sich dazu auf eine bestimmte Auslegung von Ziff. 126 RTV geeinigt. Wäre ihnen dabei bewußt gewesen, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung nicht vom Verständnis der Ziff. 126 RTV 1989 abhängt, sondern durch Ziff. 127, 208, 209 RTV 1989 festgelegt wird, hätten sie mit der Übergangsregelung eine gänzlich überflüssige Vorschrift geschaffen und hätten ihren Konflikt in Wirklichkeit nicht beigelegt. Daß sie dies gewollt haben, kann nicht angenommen werden. Soll die Übergangsregelung ihren Zweck erfüllen, die Höhe der Entgeltfortzahlung dem Streit zu entziehen, so muß sie als abschließende Regelung verstanden werden. Da sie eindeutig klarstellt, daß nach Ziff. 126 RTV 1989 der Verdienst arbeitsunfähiger Arbeitnehmer nach den Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes in der Fassung vom 25. September 1996 weitergezahlt werden soll, bedeutet dies, daß die Tarifvertragsparteien für die Beschäftigten der Beklagten während des Übergangszeitraums die Höhe der Entgeltfortzahlung trotz Ziff. 127, 208, 209 RTV 1989 auf 80 % begrenzen wollten.

V. Die am 5. Mai 1998 rückwirkend für die Zeit ab dem 1. Oktober 1996 getroffene Regelung verstößt nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Dieser begrenzt zwar für Gesetzgeber und Tarifvertragsparteien die Befugnis zur rückwirkenden Gestaltung der Rechtslage, schließt sie aber nicht aus. Der zeitliche Geltungsbereich einer tarifvertraglichen Regelung steht zur Disposition der Tarifvertragsparteien. Für eine Rechtssetzung mit rückwirkender Kraft bedürfen diese keine besonderen Ermächtigung. Auch ein zugunsten des Arbeitnehmers entstandener Anspruch, der aus einer kollektivrechtlichen Norm erwachsen ist, trägt in den Grenzen, die der Grundsatz des Vertrauensschutzes zieht, die Möglichkeit seiner nachträglichen Abänderbarkeit in sich (BAG Urteil vom 23. November 1994 – 4 AZR 879/93 – AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung, m.w.N.). Dies gilt insbesondere dann, wenn die bisherige tarifliche Rechtslage unklar und umstritten ist und wenn die betreffenden Ansprüche faktisch noch nicht abgewickelt sind.

Im Streitfall bestand sowohl zwischen Kläger und Beklagter als auch zwischen den Tarifvertragsparteien selbst seit der gesetzlichen Kürzung der Entgeltfortzahlung Streit darüber, ob der RTV 1989 den Arbeitgeber weiterhin zur ungekürzten Zahlung verpflichte. Die Beklagte hat tatsächlich nur 80 % des Lohnes gezahlt. Für die Zeit ab dem 1. Januar 1997 haben die Parteien des RTV 1989 im übrigen eine ausdrückliche Neuregelung getroffen, die sie offensichtlich als erforderlich ansahen, um die Höhe der Entgeltfortzahlung eindeutig festzulegen. Unter diesen Voraussetzungen konnte der Kläger nicht darauf vertrauen, daß die Tarifvertragsparteien für die Beklagte keine Regelung treffen würden, die für die Zeit der Weitergeltung des RTV 1989 nur eine gekürzte Entgeltfortzahlung vorsieht. Die Übergangsregelung vom 5. Mai 1998 mit dem ihr beizulegenden Inhalt ist rechtswirksam. Die Klageforderung besteht nicht.

 

Unterschriften

Reinecke, Kreft, Fischermeier, Hansen, Rolf Steinmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2628947

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge