Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Grundkündigungsfrist für Arbeiter
Leitsatz (redaktionell)
Anwendung des KündFG für einer deklaratorischen, tariflichen Kündigungsfristenregelung
Normenkette
BGB § 622; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 12.11.1991; Aktenzeichen 6 Sa 738/91) |
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 20.02.1991; Aktenzeichen 9 Ca 272/90) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgericht Frankfurt am Main vom 12. November 1991 – 6 Sa 738/91 – wird zurückgewiesen.
Von den Kosten der Revisionsinstanz trägt der Kläger 8/9, die Beklagte 1/9.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, zu welchem Zeitpunkt ihr Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung der Beklagten vom 19. September 1990 beendet worden ist.
Der am 13. Juli 1963 geborene Kläger war seit dem 11. Juni 1990 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Brot- und Backwarenindustrie, als Kraftfahrer beschäftigt. In dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 12. Juni 1990 haben die Parteien einzelvertraglich die jeweils gültigen Tarifverträge der Brot- und Backwarenindustrie dem Arbeitsverhältnis zugrundegelegt, insbesondere die Anwendung der tarifvertraglichen Kündigungsfristen vereinbart.
Mit Schreiben vom 19. September 1990 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger unter Beachtung einer Kündigungsfrist gemäß § 2 Ziff. 3 a des Manteltarifvertrages für die Beschäftigten der Brot- und Backwarenindustrie des Landes Hessen vom 22. Mai 1989 (künftig MTV) von zwei Wochen ordentlich zum 4. Oktober 1990. Die ordentliche Kündigung von gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten wird in § 2 MTV wie folgt geregelt:
§ 2
Einstellungen und Entlassungen
…
2. Bei gewerblichen Arbeitnehmern gilt der erste Beschäftigungsmonat als Probezeit. Während dieser Zeit beträgt die Kündigungsfrist beiderseits einen Tag zum Schluß des folgenden Arbeitstages.
Bei Angestellten gelten die ersten drei Monate der Beschäftigung als Probezeit. Während der Probezeit beträgt die Kündigungsfrist beiderseits einen Monat zum Monatsende.
…
3. Nach Ablauf der Probezeit gelten folgende Kündigungsfristen:
für gewerbliche Arbeitnehmer
bei |
Betriebszugehörigkeit |
|
bis zu 5 Jahren 2 Wochen |
|
über 5 Jahre 1 Monat zum Monatsende |
jeweils beiderseits.
Die Kündigungsfrist gegenüber dem Arbeitnehmer erhöht sich:
nach Vollendung des 45. Lebensjahres und 10jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
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2 Monate zum Monatsende; |
nach Vollendung des 55. Lebensjahres und 20jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
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3 Monate zum Vierteljahresende. |
für Angestellte
beiderseits 6 Wochen zum Vierteljahresende.
Die Kündigungsfrist gegenüber dem Angestellten erhöht sich:
nach Vollendung des 30. Lebensjahres und 5jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
|
3 Monate zum Vierteljahresende; |
nach Vollendung des 33. Lebensjahres und 8jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
|
4 Monate zum Vierteljahresende; |
nach Vollendung des 35. Lebensjahres und 10jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
|
5 Monate zum Vierteljahresende; |
nach Vollendung des 37. Lebensjahres und 12jähriger Betriebszugehörigkeit auf |
|
6 Monate zum Vierteljahresende. |
…
5. Die Vereinbarung eines befristeten Arbeitsverhältnisses ist nur zulässig, wenn seine Dauer oder sein Zweck eindeutig bestimmt ist.
Wird ein befristetes Arbeitsverhältnis über die vorgesehene Zeitdauer hinaus fortgesetzt, so geht es in ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Dauer über.
Das befristete Arbeitsverhältnis kann vor Ablauf der vereinbarten Zeit von jeder Seite unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfristen aufgekündigt werden.
In der Protokollnotiz zu § 2 Ziffer 3 a, 2. Absatz heißt es: Zwischen den Tarifvertragsparteien besteht Einigkeit darüber, daß bei einer eventuellen gesetzlichen Neuregelung der Kündigungsfristen für ältere Arbeiter die entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen geändert werden.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die zweiwöchige Kündigungsfrist sei verfassungswidrig und durch die für Angestellte geltende Kündigungsfrist zu ersetzen, darüber hinaus habe die Beklagte überhaupt nicht mehr ordentlich kündigen können.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 19. September 1990 nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 4. Oktober 1990 hinaus fortbestanden hat.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei durch die Kündigung der Beklagten erst zum 31. Dezember 1990 aufgelöst worden. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten festgestellt, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei durch die Kündigung der Beklagten zum 31. Oktober 1990 aufgelöst worden. Nur der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis 31. Oktober 1990 ist noch Gegenstand des Revisionsverfahrens, die weitergehenden Anträge des Klägers sind durch Teilurteil des Senats vom 13. August 1992 erledigt. Der Rechtsstreit war durch Senatsbeschluß vom 13. August 1992 im Hinblick auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (BVerfGE 82, 126 = AP Nr. 28 zu § 622 BGB) bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 BGB ausgesetzt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis hat aufgrund der Kündigung der Beklagten vom 19. September 1990 mit Ablauf des 31. Oktober 1990 geendet. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts erweist sich damit im Ergebnis als zutreffend.
1. Wie der Senat bereits in dem Teilurteil vom 13. August 1992 dargelegt hat, enthält die auf das Arbeitsverhältnis kraft einzelvertraglicher Bezugnahme anwendbare Vorschrift des § 2 Ziff. 3 a Abs. 1 1. Alternative MTV eine sogenannte neutrale Klausel und keine konstitutive eigenständige Regelung der Grundkündigungsfrist für gewerbliche Arbeitnehmer, die von den Gerichten für Arbeitssachen in eigener Kompetenz auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG überprüft werden könnte. Es handelt sich lediglich um eine deklaratorische Verweisung auf die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 1 a.F. BGB, die wörtlich in den Tarifvertrag übernommen worden ist. Der deklaratorische Charakter der Regelung der Grundkündigungsfrist ergibt sich insbesondere aus der Protokollnotiz, die eine Änderung des Tarifvertrags nur für den Fall einer gesetzlichen Neuregelung der Kündigungsfristen für ältere Arbeiter ins Auge faßt.
2. Enthält aber § 2 Ziff. 3 a Abs. 1 MTV keine eigenständige Regelung der Grundkündigungsfrist für die gewerblichen Arbeitnehmer, so bestimmt sich die Kündigungsfrist für die streitige Kündigung nunmehr nach dem Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (KündFG) vom 7. Oktober 1993 (BGBl. I, S. 1668). Rechtsgrundlage für die Fristenregelung in neutralen Klauseln ist nicht der Tarifvertrag, sondern die in Bezug genommene gesetzliche Regelung. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, daß der Manteltarifvertrag zwischen den Parteien nicht normativ, sondern nur kraft vertraglicher Vereinbarung gilt. Denn im Hinblick auf die vorbehaltlose Inbezugnahme der tariflichen Kündigungsfristenregelung im Arbeitsvertrag ist davon auszugehen, daß, ebenso wie aus den dargelegten Gründen die Tarifvertragsparteien, auch die Arbeitsvertragsparteien hinsichtlich der Grundkündigungsfrist keine eigenständige Regelung schaffen wollten, sondern die gesetzliche Regelung übernehmen wollten (vgl. das Teilurteil des Senats vom 13. August 1992 in der vorliegenden Sache).
Die verfassungswidrige Vorschrift des § 622 BGB ist inzwischen durch das KündFG ersetzt worden, das nach dem geänderten Art. 222 EGBGB auch für Fälle wie den vorliegenden gilt, in dem ein Rechtsstreit noch anhängig ist, bei dem die Entscheidung über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses von der Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Art. 2 Nr. 4 des Ersten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetzes vom 14. August 1969 abhängt.
3. Die gesetzliche Neuregelung ist auch als verfassungskonform anzusehen. Die durch das KündFG geschaffenen Kündigungsfristen, mit denen der Gesetzgeber einen Mittelweg zwischen den früheren Arbeiter- und Angestelltenkündigungsfristen beschreitet, behandeln Arbeiter und Angestellte gleich und entsprechen damit Art. 3 GG.
a) Auch die in Art. 222 EGBGB eingefügte Übergangsregelung des KündFG ist nicht als verfassungswidrig anzusehen. Es liegt in der Kompetenz des Gesetzgebers, verfassungswidrige gesetzliche Regelungen auch rückwirkend zu beseitigen. Beschränkt sich der Gesetzgeber für die Vergangenheit darauf, die Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Zustandes an die Voraussetzung zu knüpfen, daß noch ein Rechtsstreit bei Gericht anhängig ist, so ist auch dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber hat mit der Übergangsregelung nur der durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (BVerfGE 82, 126 = AP Nr. 28 zu § 622 BGB) geschaffenen Rechtslage Rechnung getragen, daß die diskriminierenden Kündigungsfristen in § 622 Abs. 2 BGB nur als unvereinbar mit dem GG erklärt worden und seither die Gerichtsverfahren, in denen diese Kündigungsfristen entscheidungserheblich waren, insoweit ausgesetzt worden sind. Daß eine Übergangsregelung, die an die Anhängigkeit eines Rechtsstreits über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses anknüpft und damit das schutzwerte Vertrauen nicht völlig unberücksichtigt läßt, nicht als verfassungswidrig anzusehen ist, hat der Senat bereits in dem Teilurteil vom 21. März 1991 (– 2 AZR 323/84 (A) – BAGE 67, 342 = AP Nr. 29 zu § 622 BGB, m.w.N.) näher ausgeführt. Daran ist festzuhalten.
b) Wenn Wollgast (ArbuR 1993, 325; dagegen Preis, DB 1993, 2125, 2130) demgegenüber die Übergangsregelung des KündFG für verfassungswidrig hält und dafür plädiert, in den noch anhängigen Gerichtsverfahren auch auf die Arbeiter die früheren Angestelltenkündigungsfristen anzuwenden, so vermag dies nicht zu überzeugen. Die Übergangsregelung enthält nicht ihrerseits einen Verstoß gegen Art. 3 GG. Soweit noch Gerichtsverfahren anhängig sind, sind in den Altfällen sowohl auf Arbeiter wie auch auf Angestellte gleichermaßen die Kündigungsfristen des KündFG anzuwenden. Wollgast ist zwar einzuräumen, daß bei Angestellten ausgesetzte Verfahren vor allem Angestellte in Kleinbetrieben mit weniger als 3 Angestellten betreffen, so daß die Mehrzahl der ausgesetzten Verfahren Arbeiterkündigungsfristen betreffen wird. Darin liegt jedoch kein Verstoß gegen Art. 3 GG. Wollgast räumt selbst ein, daß für bereits abgeschlossene Gerichtsverfahren wegen des Gebotes der Rechtssicherheit eine Anpassung an die neuen Kündigungsfristen auszuschließen ist. Mit den Arbeitnehmern, Arbeitern oder Angestellten, die bis zum 15. Oktober 1993 aufgrund eines rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahrens oder ohne Gerichtsverfahren aus einem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, sind die Arbeitnehmer, die unter die Übergangsregelung des KündFG fallen, nicht vergleichbar. Innerhalb der Übergangsregelung werden aber Arbeiter und Angestellte gleich behandelt. Würde man, wie dies Wollgast vertritt, für die Vergangenheit vor Inkrafttreten des KündFG in allen noch anhängigen Verfahren auf die Arbeiter die früheren Angestelltenkündigungsfristen anwenden, so würde dies zu einer durch nichts zu rechtfertigenden Besserstellung der Arbeiter führen, denen vor Inkrafttreten des KündFG gekündigt worden ist, ganz abgesehen davon, daß selbst auf die Angestellten in den noch anhängigen Verfahren nur die kürzeren Kündigungsfristen des KündFG anwendbar sind (vgl. die Senatsurteile vom 17. März 1994 – 2 AZR 657/87 c – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, und – 2 AZR 665/87 C –).
4. Die Kündigungsfrist des Klägers beträgt danach vier Wochen zum 15. bzw. zum Ende eines Kalendermonats (§ 622 Abs. 1 i.d.F. des KündFG vom 7. Oktober 1993). Bei einem Zugang der Kündigung am 20. September 1990 hat die Kündigung das Arbeitsverhältnis zum 31. Oktober 1990 beendet.
5. Die Kostenverteilung in Höhe von 8/9 für den Kläger zu 1/9 für die Beklagte durch das Berufungsgericht entspricht dem beiderseitigen Unterliegen.
Unterschriften
Bitter, Bröhl, Dr. Rost, Brocksiepe, Timpe
Fundstellen