Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung wegen MfS-Tätigkeit
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 17. Mai 1995 – 3 Sa 627/94 – wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen Kündigung.
Die 1941 geborene Klägerin trat am 1. September 1971 als Diplomlehrerin für Deutsch in den Schuldienst der DDR. An ihrer Schule war sie Mitglied und zeitweise Vorsitzende der Gewerkschaftsleitung. Die Klägerin war Mitglied der SED, nahm aber keine Parteifunktionen wahr.
In ihrer Selbstauskunft zum Personalbogen vom 8. Mai 1991 wie auch in ihrer Erklärung über die Vordienstzeiten vom 12. Juli 1992 verneinte die Klägerin die Frage nach einer jemals erfolgten Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (fortan: MfS).
In einem die Klägerin betreffenden Einzelbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit vom 23. September 1993 (Gauck-Bericht) wurde der Beklagte darauf hingewiesen, daß die Klägerin beim MfS als „Geheimer Informator” mit dem Decknamen „Meyer” geführt wurde. In einer handschriftlichen Erklärung vom 22. Mai 1964 hatte sich die Klägerin verpflichtet, das MfS in seiner Arbeit zu unterstützen und dabei besonders auf „Anzeichen von Feindtätigkeit unter Jugendlichen zu achten” und „dazu beizutragen, daß vorbeugend auf die Jugendlichen eingewirkt werden kann”. Nach dem Gauck-Bericht befinden sich in den dortigen Unterlagen 17 Treffberichte des Führungsoffiziers sowie fünf hand- und vier maschinenschriftliche, mit dem Decknamen unterschriebene Berichte, in denen die Klägerin über Vorkommnisse im Arbeitsbereich, u.a. über die FDJ- und Klubarbeit in K. berichtet und in denen sie Personeneinschätzungen über Charakter, politische Einstellung und das Freizeitverhalten der Betreffenden gibt.
Nach dem Gauck-Bericht wird die Dauer der IM-Erfassung der Klägerin vom 22. Mai 1964 bis 21. April 1966 angegeben. Als Grund für die Beendigung der Tätigkeit werden aus den Unterlagen „Arbeitsplatzwechsel und familiäre Gründe” zitiert.
Mit Schreiben vom 11. November 1993 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin unter Bezugnahme auf Abs. 5 Ziff. 2 EV außerordentlich mit Ablauf des 19. November 1993. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 13. November 1993 zu.
Mit der am 30. November 1993 eingereichten Klage hat die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Sie hat vorgetragen, ihr sei im Jahre 1964, als sie sich zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS verpflichtet habe, aufgrund ihrer Jugend und ihrer Naivität nicht bewußt gewesen, auf was sie sich eingelassen habe. Nachdem sie erkannt habe, welchen Fehler sie gemacht und welche Tragweite dieses gehabt habe, habe sie versucht, alles rückgängig zu machen, was jedoch nicht sofort gelungen sei. Deshalb habe sie auch nur ganz allgemeine Einschätzungen gefertigt und über profane Dinge berichtet, die jeder gewußt und gekannt habe, auch die Mitarbeiter des MfS. Sie habe die Zusammenarbeit mit dem MfS gelöst, weil sie die Staatsziele nicht mehr habe billigen können. Anfang 1966 habe sie die Kontakte zur Stasi unter dem Vorwand abgebrochen, „aufgrund großer familiärer und beruflicher Probleme keine Zeit mehr für diese Tätigkeit zu haben”. Den Fragebogen habe sie falsch ausgefüllt, weil sie ihre Tätigkeit für das MfS vergessen bzw. verdrängt habe. Im übrigen müsse berücksichtigt werden, daß sie in der SED keinerlei leitende Funktionen ausgeübt habe und aus der SED vor der politischen Wende ausgetreten sei.
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 11. November 1993 nicht aufgelöst worden sei.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei nach Abs. 5 Ziff. 2 EV gerechtfertigt, weil die Klägerin wegen ihrer Tätigkeit für das MfS in dem besonders sensiblen Schulbildungsbereich nicht mehr tragbar sei. Es sei nicht richtig, daß die Klägerin die Zusammenarbeit mit dem MfS gelöst habe, weil sie die Staatsziele nicht mehr habe billigen können. Beendigungsgründe seien ausweislich der Gauck-Akten „Arbeitsplatzwechsel und familiäre Gründe” gewesen. Im übrigen seien auch die Voraussetzungen der ordentlichen Kündigung wegen mangelnder persönlicher Eignung nach Abs. 4 Ziff. 1 EV erfüllt, weil die Klägerin unrichtige Angaben zu ihrer früheren MfS-Tätigkeit gemacht habe.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Klägerin nicht überzeugend deutlich gemacht habe, daß sie sich vom MfS getrennt habe, weil sie die Staatsziele nicht habe billigen können. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit seiner Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung vom 11. November 1993 nicht aufgelöst worden.
I. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:
Die Kündigung sei weder als außerordentliche noch als ordentliche wirksam.
Die außerordentliche Kündigung sei deshalb unwirksam, weil dem Beklagten ein Festhalten am Arbeitsvertrag mit der Klägerin zumutbar sei. Zwar sei die Klägerin bewußt und gewollt für das MfS tätig gewesen. Die Verstrickung der Klägerin in den Unrechtsapparat des MfS sei auch nicht unerheblich, weil sie dem MfS, wenn auch in einem relativ kurzen Zeitraum, so aber doch intensiv zugearbeitet habe. So habe sie ohne Wissen der Betroffenen Personenberichte gefertigt. Die Klägerin könne sich nicht damit entlasten, daß sie nur über „profane” Dinge berichtet habe. Den Wert ihrer Information aufgrund der Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Daten habe die Klägerin nicht vorhersehen können.
Gleichwohl rechtfertige die Zusammenarbeit der Klägerin mit dem MfS die Kündigung nicht. Zu berücksichtigen sei das relativ jugendliche Alter zu Beginn der IM-Tätigkeit und daß die Tätigkeit fast 30 Jahre zurückliege. Die Klägerin habe dadurch, daß sie die Tätigkeit aus eigenem Antrieb beendet habe sowie durch ihren anschließenden Werdegang dokumentiert, daß der aus ihrem damaligen Verhalten folgenden Belastung für die zukünftige Tätigkeit in der Schule keine Bedeutung mehr zukomme.
Die Kündigung vom 11. November 1993 sei auch nicht gemäß Abs. 4 Ziff. 1 EV wirksam. Der Beklagte habe eine ordentliche Kündigung gar nicht ausgesprochen, auch nicht hilfsweise. Einer Umdeutung stehe entgegen, daß der Personalrat zu einer ordentlichen Kündigung nicht angehört worden sei. Die Anhörung zur außerordentlichen Kündigung genüge nicht.
II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand:
1. Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX).
Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus dem Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.
2. Nach diesen Grundsätzen ist dem Beklagten ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zumutbar.
a) Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die Klägerin sei im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV für das MfS tätig gewesen. Die Klägerin hat aufgrund einer entsprechenden Verpflichtungserklärung vom 22. Mai 1964 als inoffizielle Mitarbeiterin dem MfS über Charakter, politische Einstellung und Freizeitverhalten von Jugendlichen berichtet. Die Klägerin hat somit bewußt und final für das MfS gearbeitet.
b) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die persönliche Verstrickung der Klägerin mit dem MfS als nicht so hoch angesehen, daß dem Beklagten die weitere Beschäftigung der Klägerin im öffentlichen Dienst nicht zumutbar wäre. Dabei ist vor allem der lange Zeitablauf zwischen der bereits 1966 endgültig abgeschlossenen IM-Tätigkeit der Klägerin und der Kündigung im Jahre 1993 von Bedeutung.
Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung bei der einzelfallbezogenen Würdigung der Belastung des gekündigten Arbeitnehmers dem Zeitfaktor wesentliches Gewicht beigemessen. Persönliche Haltungen können sich ebenso wie die Einstellung zur eigenen Vergangenheit im Laufe der Zeit ändern. Auch die gesellschaftliche Ächtung von Fehlverhalten verliert sich mit der Zeit. Die Rechtsordnung trägt dieser Erkenntnis Rechnung. Auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz sieht zukünftig vor (§ 19 StUG in der Fassung des 3. StUÄndG vom 20. Dezember 1996 – BGBl. I S. 2026), daß Mitteilungen über den Akteninhalt grundsätzlich dann unterbleiben, wenn keine Hinweise vorhanden sind, daß nach 1975 eine inoffizielle Tätigkeit für die Stasi vorgelegen hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 8. Juli 1997 (– 1 BvR 2111/94, 195/95 und 2189/95 –) daraus geschlossen, daß Tätigkeiten für das MfS, die vor 1970 abgeschlossen sind, keine oder jedenfalls nur äußerst geringe Bedeutung für den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses haben. Weiter zurückliegende Vorgänge sollen danach nur dann Bedeutung erlangen, wenn sie besonders schwer wiegen oder wenn spätere Verstrickungen für sich allein genommen noch keine eindeutige Entscheidung zulassen.
Die IM-Tätigkeit der Klägerin von 1964 bis 1966 kann nicht als so besonders schwer eingestuft werden, daß sie trotz des langen Zeitablaufs noch für eine Kündigung im Jahre 1993 berücksichtigt werden könnte. Die Personenberichte der Klägerin enthielten keine schwerwiegenden Belastungen für die Betroffenen. Auf den vom Landesarbeitsgericht hervorgehobenen Umstand, daß die Klägerin ihre IM-Tätigkeit aus eigenem Antrieb beendet habe, kommt es somit nicht mehr an. Daher kann auch die Rüge der Revision nicht durchgreifen, das Landesarbeitsgericht habe zu Unrecht als unstreitig angesehen, daß die MfS-Tätigkeit auf Initiative der Klägerin beendet worden sei.
3. Dem Landesarbeitsgericht ist auch darin zu folgen, daß die außerordentliche Kündigung nicht in eine wirksame ordentliche Kündigung nach Abs. 4 Ziff. 1 EV umgedeutet werden kann. Zwar offenbart die falsche Beantwortung von Fragen nach einer MfS-Tätigkeit und einer Verpflichtungserklärung regelmäßig die mangelnde persönliche Eignung für eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst (BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 14. Dezember 1995 – 8 AZR 356/94 – AP Nr. 56 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B III 2 der Gründe). Dies gilt aber dann nicht, wenn der MfS-Tätigkeit wegen des inzwischen eingetretenen langen Zeitablaufs keine Bedeutung mehr zukommt. So hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vor dem Jahre 1970 abgeschlossene Vorgänge verschweigen darf. Dem Arbeitgeber ist es verwehrt, arbeitsrechtliche Konsequenzen aus einer Falschbeantwortung zu ziehen, die lediglich solche Altvorgänge betraf (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997, a.a.O.).
Im übrigen hat das Landesarbeitsgericht zu Recht darauf hingewiesen, daß im Streitfall der Personalrat nur zur außerordentlichen, nicht jedoch zur ordentlichen Kündigung gehört worden ist. Da der Personalrat der außerordentlichen Kündigung nicht ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hat, war die Anhörung zur (umgedeuteten) ordentlichen Kündigung nicht entbehrlich (vgl. BAG Urteil vom 16. März 1978 – 2 AZR 424/76 – AP Nr. 15 zu § 102 BetrVG 1972).
III. Der Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Dr. Wittek, Mikosch, Harnack, Rosendahl
Fundstellen