Der Kläger hatte für das Jahr 1997 keinen Anspruch auf Gewährung von Zusatzurlaub nach § 49 MTArb iVm. § 1 Abs. 1 Nr. 10 und Nr. 11 TV-Zusatzurlaub, weil die vom Kläger verwendeten Arbeitsstoffe mit dem Gefahrensymbol “Xn” und der Einstufung als “gesundheitsschädlich” keine “sonstigen giftigen Stoffe” im Sinne des TV-Zusatzurlaub sind. Die Beklagte schuldet ihm daher keine ersatzweise Freistellung für den am 30. April 1998 infolge Fristablaufs untergegangenen Urlaubsanspruch.
1. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft Tarifbindung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) anzuwendenden § 49 Abs. 1 MTArb erhält ein Arbeiter Zusatzurlaub, wenn er “unter erheblicher Gefährdung der Gesundheit” arbeitet. Nach § 49 Abs. 2 MTArb erfüllen die in § 1 TV-Zusatzurlaub genannten Arbeiten diese Anforderung. Dazu gehören Anstreicharbeiten und Spritzarbeiten nach § 1 Abs. 1 Nr. 10 und Nr. 11 TV-Zusatzurlaub, wenn sie vom Arbeiter unter den dort näher beschriebenen äußeren Arbeitsbedingungen verrichtet und “Blei-, Nitrofarben oder sonstige giftige Stoffe” verarbeitet werden.
2. Die Auslegung des im Tarifvertrag nicht näher erläuterten Tarifbegriffs “sonstige giftige Stoffe” führt zur Anwendung der gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen in ihrer jeweils geltenden Fassung.
a) Bei den vom Kläger verwendeten Stoffen handelt es sich um Arbeitsstoffe, die den Regelungen des technischen Arbeitsschutzes unterliegen. Schon deshalb liegt nahe, zur Auslegung des Tarifbegriffs auf das Recht der gefährlichen Arbeitsstoffe zurückzugreifen, wie es im Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (ChemG) und der auf seiner Grundlage (§ 19 ChemG) erlassenen GefStoffV geregelt ist. Deren Bestimmungen dienen ua. dem Schutz des Arbeitnehmers vor schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe (§ 1 ChemG). Zu diesem Zweck sind Stoffe und Zubereitungen anzumelden, zu prüfen, nach Gefährlichkeitsmerkmalen einzustufen und mit Gefahrensymbolen zu kennzeichnen. In § 3a ChemG und § 4 GefStoffV idF vom 25. Juli 1994 wird zwischen “sehr giftigen” und “giftigen” Stoffen unterschieden, zu kennzeichnen mit den Symbolen “T +” und “T…”. Die mit dem Symbol “Xn” gekennzeichneten Stoffe sind dagegen “gesundheitsschädlich”. Sie sind “nicht giftig”.
b) Der TV-Zusatzurlaub enthält keine hiervon abweichende Definition.
aa) Der Rückgriff auf die im technischen Arbeitsschutz verwandten Begriffe entspricht dem Willen der Tarifvertragsparteien, wie er im Wortlaut der Tarifbestimmungen Ausdruck gefunden hat.
(1) Für die Auslegung von Tarifvorschriften ist regelmäßig vom Wortlaut des Tarifvertrags auszugehen. Verwenden die Tarifvertragsparteien fachliche Begriffe, ist im Zweifel anzunehmen, daß das fachliche Verständnis auch für den Tarifbegriff gilt(BAG 13. Mai 1998 – 4 AZR 107/97 – BAGE 89, 6). Dabei gilt dann die jeweils aktuelle Bedeutung(vgl. BAG 30. März 2000 – 6 AZR 636/98 – ZTR 2001, 73 zur Anwendung der jeweiligen höchstrichterlichen Rechtsprechung bei Auslegung steuerrechtlicher Begriffe). Das gilt hier schon deshalb, weil der allgemeine Sprachgebrauch unergiebig ist. In den allgemein zugänglichen Nachschlagewerken finden sich Definitionen der Begriffe “Gift” oder “giftig”(vgl. Brockhaus Wahrig Deutsches Wörterbuch Stand 1981 Bd. 3 Stichwort: Gift, ein lebens- oder gesundheitszerstörender Stoff). Auch wird die Wirkung giftiger Stoffe beschrieben(Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. Bd. 8 Stichwort: Gifte, führt nach seinem Eindringen in den menschlichen Organismus zu spezifischen Erkrankungen mit vorübergehender Funktionsstörung, bleibenden Gesundheitsstörungen oder zum Tod). Die sprachliche Umschreibung klärt aber nicht, welche Stoffe diese Eigenschaften ausweisen.
(2) Entgegen der Auffassung des Klägers läßt sich der Inhalt des Tarifbegriffs nicht mit Hilfe der ausdrücklich genannten Blei- und Nitrofarben erschließen. Die Tarifvertragsparteien haben, wie er zutreffend geltend macht, nicht formuliert, die “sonstigen giftigen Stoffe” müßten vergleichbar oder ähnlich giftig wie diese Farben sein. Indessen übersieht er, daß es “reine” Farben nicht gibt. “Bleifarbe” ist ein Stoffgemisch, eine anorganische Zubereitung unter Verwendung vor allem von Bleipigmenten, das meist giftig ist(Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. Bd. 3 Stichwort: Bleifarben; Umwelt-Lexikon Stand 1985 S 68 f.). Die Vorsilbe “Nitro” kennzeichnet organische Verbindungen der NO2-Gruppe. Solche Verbindungen sind in unterschiedlichen chemischen Zusammensetzungen häufig Bestandteile von Lösungsmitteln, Farbstoffen oder Bindemitteln. Sie gelten als starke Blutgifte(Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. Bd. 15 Stichwort: Nitro; Umwelt-Lexikon aaO S 280 f. ). Das Ausmaß der Gefährdung durch blei- oder nitrohaltige Stoffgemische ist jedoch abhängig von Menge, Konzentration, Ort und Dauer der Verabreichung sowie der Resorbierbarkeit des Giftes durch den Menschen(Roche Lexikon Medizin S 606).
(3) Von dieser “Relativität” giftiger Stoffe sind ersichtlich auch die Tarifvertragsparteien ausgegangen. Das zeigt § 49 Abs. 1 MTArb. Zusatzurlaub erhalten Arbeiter, die “unter erheblicher Gefährdung der Gesundheit” tätig sind. Die Gesundheit ist gefährdet, wenn eine gesundheitliche Schädigung oder Beeinträchtigung droht(Brockhaus Wahrig Deutsches Wörterbuch Stand 1981 Bd. 3 Stichwort: gesundheitsgefährdend). Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines Schadens oder dessen Ausmaßes werden keine bestimmten Anforderungen gestellt. Demgegenüber haben die Tarifvertragsparteien zusätzlich verlangt, die Gesundheitsgefährdung müsse “erheblich” sein. Der Eintritt eines gesundheitlichen Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung müssen mithin sehr wahrscheinlich und die Folgen nach Art und Umfang besonders schwer sein. Damit werden nicht bereits gesundheitsschädliche Anstreich- und Spritzarbeiten erfaßt, sondern nur solche, die sich hiervon wegen ihrer Giftigkeit in ihrer Gefährlichkeit nochmals abheben.
Dem entspricht, daß die Tarifvertragsparteien im TV-Zusatzurlaub selbst zwischen Arbeiten mit “giftigen Stoffen” und sonstigen, die Gesundheit beeinträchtigenden Arbeiten differenzieren. Nach Nr. 8 löst “autogenes Schneiden und Schweißen an mit Mennige oder sonstigen gesundheitsgefährdenden Schutzfarben vorgestrichenen Eisenteilen” einen Anspruch auf Zusatzurlaub aus. Die begriffliche Unterscheidung zwischen “giftigen” Farben in Nr. 10 und 11 und “gesundheitsgefährdenden” Farben in Nr. 8 zeigt, daß die Tarifvertragsparteien eine qualitative Abstufung der jeweiligen Gefährlichkeit von Arbeitsstoffen erkannt und sprachlich berücksichtigt haben.
bb) Hierfür spricht auch der mit der zusätzlichen Freistellung verfolgte Zweck. Mit dem Zusatzurlaub läßt sich zwar der Eintritt eines Gesundheitsschadens nicht verhindern. Er trägt jedoch dem Umstand Rechnung, daß erheblich gesundheitsgefährdende Arbeiten den Arbeiter besonders beanspruchen. Gefordert sind stete Aufmerksamkeit, sorgfältiger Umgang mit den Gefahrstoffen; Schutzmaßnahmen sind einzuhalten. Schon geringe Unachtsamkeit kann nicht absehbare Folgen haben. Mit dem Zusatzurlaub erhält der Arbeiter hierfür und in Anerkennung seines vermehrten Erholungsbedürfnisses einen gewissen Ausgleich. Das setzt indessen voraus, daß der Arbeiter in seiner Gesundheit tatsächlich erheblich gefährdet ist. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, läßt sich nur anhand der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse beurteilen. Damit ist sichergestellt, daß sich die Gefährdung des Arbeiters durch giftige Stoffe nach objektiven, allgemein gültigen Maßstäben beurteilt.
cc) Die vom Kläger vertretene Auslegung widerspricht den Geboten von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Ob die verwendeten Arbeitsstoffe geeignet sind, einen Anspruch auf Zusatzurlaub zu begründen, muß anhand eines objektiven Maßstabs festzustellen sein, wie er mit der Heranziehung der Gefahrensymbole gewährleistet ist. Andernfalls hinge die Anwendung des TV-Zusatzurlaub von dem eher zufälligen Ergebnis ab, ob dem Arbeiter und dem Arbeitgeber bekannt ist, daß bis zur Änderung des ChemG und der GefStoffV durch das Gesetz vom 25. Juli 1994 das Symbol “Xn” für “mindergiftige” Stoffe verwendet wurde.
dd) Schließlich bestätigt die Tarifgeschichte diese Auslegung.
(1) Die Tarifvertragsparteien haben den Tarifbegriff “sonstige giftige Stoffe” schon bei Tarifabschluß im Jahr 1960 verwendet. Zu dieser Zeit sprach § 1 des “Gesetzes über gesundheitsschädliche oder feuergefährliche Arbeitsstoffe” vom 25. März 1939 (BGBl. III 8053-2 S 89) lediglich allgemein von Arbeitsstoffen, die gesundheitsschädliche Bestandteile enthalten. Auch die auf seiner Grundlage erlassene “Verordnung über die Kennzeichnung gesundheitsschädlicher Lösungsmittel und lösungsmittelhaltiger anderer Arbeitsstoffe” vom 26. Februar 1954 enthielt nicht den Begriff “giftig”. In ihr wurde der Begriff “besonders gesundheitsschädliche Flüssigkeiten” verwendet, damit ein Oberbegriff, der neben giftigen auch ätzende, krebserzeugende oder reizende Stoffe umfaßte.
Der Begriff “Gift” fand sich im Jahr 1960 vorwiegend in polizeirechtlichen Landesvorschriften vor allem zur Überwachung des Handels mit Giften, ohne diesen jedoch zu definieren. In ihnen war festgelegt, daß bestimmte, im einzelnen benannte Stoffe und Zubereitungen als Gifte gelten. Als giftige Farben wurden vor allem “giftige Öl-, Harz- oder Lackfarben” und “andere giftige Farben” genannt, insbesondere solche, die Antimon, Barium, Blei, Chrom, Gummigutti, Kadmium, Prikrinsäure, Zink und Zinn enthalten (vgl. “Gesetz betreffend die Überwachung des Handels mit Giften, giftigen Pflanzenschutzmitteln und Arzneimitteln außerhalb der Apotheken” und “Verordnung über den Handel mit Giften” jeweils vom 21. Juli 1954, Nds. GVBl. 1954 S 61; “Polizeiverordnung über den Handel mit Giften” vom 30. Dezember 1960, Saarl. AmtBl. 1961 S 13). Bei Abschluß des Tarifvertrags galt damit ein Stoff dann als giftig, wenn er nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als solcher eingestuft und gekennzeichnet war.
(2) Hieran haben die Tarifvertragsparteien mit der Formulierung in § 1 Abs. 1 Nr. 10 und Nr. 11 TV-Zusatzurlaub angeknüpft, wenn sie dort neben den im Jahr 1960 anerkannt “giftigen” Blei- und Nitrofarben auch sonstige giftige Stoffe nennen. Sie haben die Tarifvorschrift erkennbar im Interesse eines effektiven Gesundheitsschutzes bewußt für die gesetzliche Entwicklung “offen” formuliert, damit neue Erkenntnisse über die Eigenschaften von Stoffen auch ohne Änderung der Tarifvorschriften von den tarifgebundenen Parteien berücksichtigt werden. Bestätigt wird dieser Wille der Tarifvertragsparteien durch die Tatsache, daß sie die Tarifvorschrift trotz der inzwischen erreichten Regelungsdichte des Rechts der gefährlichen Arbeitsstoffe bis heute nicht geändert haben.