Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhaltensbedingte Kündigung - Beweislast
Orientierungssatz
Beweislast bei vom Kläger gegenüber dem Vorwurf der Arbeitsbummelei eingewandter depressiver Erkrankung.
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 06.02.1990; Aktenzeichen 11/10 Sa 589/89) |
ArbG Köln (Entscheidung vom 04.04.1989; Aktenzeichen 1 Ca 3418/88) |
Tatbestand
Der Kläger war seit dem 26. September 1967 bei der Beklagten zunächst als Chemiefacharbeiter und später als angestellter Sachbearbeiter in der Betriebsdatenerfassung gegen ein monatliches Bruttogehalt von ca. 3.900,-- DM tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte der chemischen Industrie Anwendung.
Nach einer vorangegangenen Kritik in einem Gespräch wurde der Kläger mit Schreiben vom 10. Februar 1988 wegen eines Arbeitszeitdefizits von 122 Stunden und zehn Minuten abgemahnt; nach der bei der Beklagten geltenden Gleitzeit-Betriebsvereinbarung darf der Negativsaldo pro Monat zehn Stunden nicht überschreiten. Den sich aus dem Arbeitszeitdefizit ergebenden Minusbetrag hat die Beklagte im Februar 1988 vom Gehalt des Klägers einbehalten. In der Abmahnung wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bei weiteren Versäumnissen oder Verfehlungen das Arbeitsverhältnis gelöst werden müsse. Gleichwohl entstanden in der Folgezeit erneut Arbeitszeitdefizite für den Kläger, und zwar für Februar 1988 24,08 Stunden, welche sich nach Ablauf des Monats März 1988 auf 36,14 Stunden und nach Ablauf des Monats April 1988 auf 54,41 Stunden erhöhten, so daß nach Abzug des zugestandenen Negativsaldos von zehn Stunden sich ein Minussaldo von 44,41 Stunden ergab (Arbeitszeitabrechnungen für die Monate Februar, März und April 1988).
In der Zeit vom 6. April bis zum 26. April 1988 fehlte der Kläger, ohne eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten einzureichen; lediglich am 11. April 1988 arbeitete er einige Stunden. Nach einer im Betrieb der Beklagten geltenden Betriebsordnung hat ein Arbeitnehmer im Krankheitsfall unverzüglich seinem Vorgesetzten über die Arbeitsverhinderung Mitteilung zu machen; ferner wird bei Fehlen über drei Tage hinaus das Einreichen einer schriftlichen Begründung der Arbeitsverhinderung erforderlich (Aushang vom 12. Oktober 1983 sowie Quittierung der Kenntnisnahme durch den Kläger am 24. Oktober 1983). Der Kläger und seine Tochter C telefonierten während der Fehlzeit verschiedentlich mit der Beklagten, um über das Fernbleiben von der Arbeit zu unterrichten; ob die Telefonate mit den zuständigen Personen geführt wurden, ist zwischen den Parteien streitig. Die Tochter C entschuldigte den Vater mehrfach wegen Krankheit und kündigte jeweils sein Kommen für den nächsten Tag an. Der Kläger selbst rief am 20., 25. und 26. April 1988 an und teilte mit, er sei zum Werksarzt oder müsse noch zu Besorgungen in die Stadt und werde danach kommen; tatsächlich erschien der Kläger jedoch nicht. Allerdings war er am 8. und 29. April 1988 bei der Werksärztin Dr. H in Behandlung und will auch versucht haben, diese am 19. April 1988 zu erreichen.
Mit Anhörungsbogen vom 26. April 1988 wurde der Betriebsrat der Beklagten über die beabsichtigte Kündigung zum 31. Dezember 1988 unterrichtet; dabei wurde als Kündigungsgrund "erneutes unentschuldigtes Fehlen seit dem 6. April 1988 sowie gravierende Arbeitszeitversäumnisse Februar, März und April" angegeben. Bei der Übergabe des Anhörungsbogens nebst weiteren Unterlagen (Abmahnungsschreiben vom 10. Februar 1988) erfolgte außerdem eine ausführliche mündliche Information über die Kündigungsgründe. Nach Widerspruch des Betriebsrats unter dem 2. Mai 1988 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 3. Mai 1988 fristgerecht zum 31. Dezember 1988.
Mit der am 10. Mai 1988 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet sich der Kläger gegen diese Kündigung mit der Behauptung, die seit Februar 1988 entstandenen Arbeitszeitdefizite sowie sein Fehlen in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988 seien auf schwere Depressionen zurückzuführen, die sich aus seinen persönlichen Schwierigkeiten ergeben hätten: Er sei mit dem Fortgang seiner Ehefrau im Februar 1987 nicht fertiggeworden; infolge dieser Situation hätten sich auch die finanziellen Verhältnisse verschärft durch Abzahlungen an Unterhalt, auf Kredite und Miete, so daß er zunehmend in einen kritischen und depressiven Zustand geraten sei, zumal auch noch die Kontakte zu Eltern und Geschwistern abgebrochen seien. Nachdem sich die Verhältnisse insbesondere ab Oktober 1987 verschlechtert hätten, habe er sich zum Jahreswechsel 1988 dem Hausarzt mitgeteilt, der ihm auch Beruhigungsmedikamente verordnet habe. Aus dieser Entwicklung, die sich Anfang 1988 verschlimmert und schließlich im April zu einer völligen Verweigerung geführt habe, erkläre sich das Anwachsen des Zeitdefizits und sein Verhalten ab 6. April 1988. Zu berücksichtigen sei auch, daß er sich zu Weihnachten 1987 einer Totalextraktion von 26 Zähnen im Krankenhaus habe unterziehen müssen, was wiederum mit finanziellen Kosten verbunden gewesen sei. Sein Hausarzt habe ihn wegen der Depressionen schon Anfang 1988 behandelt (Beweis: Dr. E), und die Werksärztin Dr. H habe dies ebenfalls bestätigt. Allerdings habe er den Facharzt Dr. C trotz Anratens von Frau Dr. H erst nach Ausspruch der Kündigung aufgesucht. Dieser könne im Zusammenhang mit den vorangegangenen Feststellungen bestätigen, daß er in der fraglichen Zeit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung verhindert gewesen sei. Die ärztliche Behandlung und die Rückkehr seiner Ehefrau Mitte 1988 hätten zu seiner Stabilisierung geführt.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, daß das Arbeitsverhält-
nis der Parteien nicht durch die Kün-
digung der Beklagten vom 3. Mai 1988,
zugegangen am 4. Mai 1988, zum 31. De-
zember 1988 aufgelöst wird, sondern
darüber hinaus weiterhin fortbesteht;
2. die Beklagte zu verurteilen, ihn über
den 31. Dezember 1988 hinaus zu unver-
änderten Arbeitsbedingungen weiterzu-
beschäftigen.
Die Beklagte hat mit ihrem Klageabweisungsantrag geltend gemacht, der Kläger habe insbesondere in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988 ohne ordnungsgemäße und hinreichende Entschuldigung gefehlt; er sei in dieser Zeit auch nicht arbeitsunfähig krank gewesen. Aus der Arbeitsordnung ergebe sich, was dem Kläger auch bekannt gewesen sei, daß er ein ärztliches Attest habe beibringen müssen. Trotz mehrerer vorangegangener einschlägiger Kritikgespräche und trotz der Abmahnung vom 10. Februar 1988 habe der Kläger in den nachfolgenden Monaten wiederum ein Arbeitszeitdefizit auflaufen lassen, das die nach der Gleitzeitregelung erlaubten Grenzen um ein Vielfaches überschritten habe. In der Summierung und auch in der rechtlichen Einordnung komme dieses Arbeitszeitdefizit einer weiteren unentschuldigten Fehlzeit von insgesamt mehr als einer Woche gleich. Im Ergebnis habe der Kläger im Februar bis April 1988 täglich um eine Stunde weniger als vorgeschrieben gearbeitet. Das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit habe der Kläger nicht substantiiert vorgetragen. Jedenfalls sei der Kläger im Februar, März und Anfang April nicht arbeitsunfähig gewesen, denn wer sieben Stunden arbeite, könne auch acht Stunden arbeiten; der Hinweis auf Depressionen und familiäre Probleme sei viel zu allgemein. Der Kläger sei auch nicht dem Rat der Frau Dr. H gefolgt, einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aufzusuchen, denn dies sei erst am 23. Mai 1988 geschehen. Im nachhinein könne deshalb dieser Arzt zum Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit im April 1988 nichts sagen. Schließlich macht die Beklagte geltend, dem Kläger immer wieder durch Gewährung von Darlehen und Vorschüssen geholfen zu haben, ohne daß er Einsicht gezeigt habe; er sei nicht einmal zur Leistung von Überstunden bereit gewesen.
Das Arbeitsgericht hat nach Einholung von zwei Auskünften bei der Ärztin Dr. H nach den Klageanträgen erkannt, während auf die Berufung der Beklagten das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen hat. Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision des Klägers, um deren Zurückweisung die Beklagte bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet; sie führt zur Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung (§ 565 ZPO), weil nach dem bisher festgestellten Sachverhalt noch nicht von einem dem Kläger vorwerfbaren Fehlverhalten (§ 1 Abs. 2 KSchG) ausgegangen werden kann.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung sei aus Gründen im Verhalten des Klägers (§ 1 Abs. 2 KSchG) begründet. Es spreche schon vieles dafür, daß der Kläger seine Anzeige- und Nachweispflichten im Zusammenhang mit der angeblichen Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988 schuldhaft nicht erfüllt habe. Allerdings bleibe streitig, ob der Kläger nicht zumindest fernmündlich seine Verhinderung den bei der Beklagten zuständigen Personen unverzüglich angezeigt habe und ob er nicht tatsächlich in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988 arbeitsunfähig gewesen sei. Ob es sich insoweit um ein unentschuldigtes Fehlen gehandelt habe, könne jedoch dahingestellt bleiben, weil die Kündigung schon wegen des unstreitigen Arbeitszeitdefizits in der Zeit vom Februar bis April 1988 gerechtfertigt sei. Nach Abzug von zehn Stunden als zulässige Zeitschuld im Rahmen der gleitenden Arbeitszeit verbleibe nämlich immer noch ein Defizit von mehr als 44 Stunden, was einer Stunde pro Arbeitstag gleichkomme. Dafür, daß der Kläger durch Krankheit an der Arbeitsleistung gehindert gewesen sei, habe er keine näheren Angaben gemacht. Er müsse sich deshalb im Hinblick auf die Arbeitszeitdefizite einen Schuldvorwurf gefallen lassen. Soweit er einwende, bereits ab Februar 1988 wegen der angeblichen Depressionen nicht mehr steuerungsfähig gewesen zu sein, stehe dem entgegen, daß er in der fraglichen Zeit durchaus regelmäßig, wenn auch verkürzt, gearbeitet habe. Er habe sich an den Tagen, an denen das Arbeitszeitdefizit aufgelaufen sei, auch nicht arbeitsunfähig krank gemeldet. Die Arbeitszeitversäumnisse könnten auch nicht nachträglich mit partiellen Arbeitsunfähigkeitszeiten erklärt werden. Der Kläger hätte dann konsequent das für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorgesehene Verfahren einhalten müssen. Da der Kläger auch vor Ausspruch der ordentlichen Kündigung in gehöriger Weise abgemahnt worden sei und die Einbehaltung des Betrags für die Fehlzeit von 122 Stunden zusätzlich eine Warnung gewesen sei, entspreche die Kündigung der Reaktion eines ruhig und verständig urteilenden Arbeitgebers. Dies gelte auch im Hinblick auf die anzustellende Interessenabwägung (vgl. dazu im einzelnen die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts auf S. 16 und 17 des angefochtenen Urteils).
II. Dieser Würdigung folgt der Senat nicht, weil sie nicht frei von Rechtsfehlern ist.
1. Bei der Frage der Sozialwidrigkeit einer Kündigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die der Nachprüfung grundsätzlich nur dahin unterliegt, ob der Rechtsbegriff selbst verkannt ist oder ob bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 Abs. 2 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob bei der gebotenen Interessenabwägung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts; vgl. BAGE 1, 99 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG; BAGE 1, 117 = AP Nr. 6 zu § 1 KSchG; BAGE 4, 152 = AP Nr. 18 zu § 3 TOA sowie BAG Urteil vom 20. Oktober 1959 - 3 AZR 279/56 - AP Nr. 71 zu § 1 KSchG). Selbst bei Anlegung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs kann das angefochtene Urteil nicht bestätigt werden.
a) Es ist zunächst verfehlt, daß das Landesarbeitsgericht die verhaltensbedingte Rechtfertigung der Kündigung ausschließlich auf einen Umstand stützt (Arbeitszeitdefizite Februar, März, April 1988), der für die Beklagte ausweislich ihres Kündigungsschreiben vom 3. Mai 1988 selbst nicht "Auslöser" der Kündigung war. Das Landesarbeitsgericht dürfte damit einen wesentlichen Umstand im vorstehenden Sinne unberücksichtigt gelassen haben. Das Kündigungsschreiben lautet nämlich auszugsweise:
"Im vergangenen Jahr 1987 sind Sie wegen unent-
schuldigten Fehlens, nichtgenehmigten Urlaubs
und ständigem Arbeitszeitdefizit mehrmals durch
Vorgesetzte ermahnt worden.
Mit Schreiben vom 10. Februar 1988 wurden Sie
wegen erneuten Verfehlungen und Versäumnissen
abgemahnt.
Da Sie ab dem 06. April 1988 bis zum 26. April
1988 wieder teils unentschuldigt, teils ohne
korrekte Entschuldigung Ihrer Arbeit fernge-
blieben sind, müssen wir das Arbeitsverhält-
nis fristgerecht lösen."
Die Beklagte differenziert deutlich zwischen Ermahnung bzw. Abmahnung wegen u.a. Arbeitszeitdefizits einerseits und unentschuldigten Fehlens andererseits. Ihre Formulierung "da Sie ab dem 06. April 1988 bis zum 26. April 1988 wieder .. Ihrer Arbeit ferngeblieben sind" belegt eindeutig, daß dies, nämlich das angeblich unentschuldigte Fehlen tragender Kündigungsgrund sein sollte.
b) Allerdings hat die Beklagte sowohl gegenüber dem Betriebsrat wie auch im Prozeß die Kündigung auch auf das erneute Arbeitszeitdefizit gestützt. Sie hat auch unwidersprochen vorgetragen, bei der mündlichen Erläuterung der Kündigung seien die zwischenzeitlich wieder erheblichen Arbeitszeitdefizite Gegenstand der Erörterung gewesen. Es ist deswegen davon auszugehen, daß auch wegen des neuen Arbeitszeitdefizits gekündigt worden ist, dieser Kündigungsgrund also nicht lediglich nachgeschoben ist, wogegen im übrigen angesichts der Beteiligung des Betriebsrats keine Bedenken bestünden (vgl. BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972 = EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 62, mit Anm. von Kraft; siehe zum Meinungsstand auch KR-Becker, 3. Aufl., § 1 KSchG Rz 164 ff.; KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 128 ff.).
Nach dem Inhalt des Kündigungsschreibens und dem Prozeßvortrag der Beklagten ist also primärer, tragender Kündigungsgrund für die Beklagte das Fehlen des Klägers in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988. Insoweit stellt sich nicht die in der Literatur (vgl. KR-Becker, aaO, § 1 KSchG Rz 169, 170 mit Rechtsprechungsnachweisen; KR-Hillebrecht, aaO, § 626 BGB Rz 39; KR-Wolf, 3. Aufl., Grunds. Rz 339 ff.; U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 369 ff.) erörterte Frage des verziehenen oder verwirkten Kündigungsgrundes, sondern die Frage nach einer unvollständigen Sachverhaltsbeurteilung und Interessenabwägung: Läßt der verständig und ruhig urteilende Arbeitgeber (so der Maßstab für die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung seit BAGE 1, 99 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG; ferner Senatsurteil vom 22. Juli 1982 - 2 AZR 30/81 - AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung) selbst erkennen, daß er ein bestimmtes Verhalten noch nicht (allein) zum Anlaß einer Kündigung nehmen will, so muß er sich daran festhalten lassen. Dies ergibt sich aus dem das Zivilrecht beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Es kann hier davon ausgegangen werden, daß die Beklagte wegen des erst bis April aufgelaufenen Arbeitszeitdefizits allein noch nicht gekündigt, sondern vielleicht nur zu einem milderen Mittel (Rücksprache betreffend die Ursachen, eventuell "letzte" Abmahnung, Gehaltseinbehaltung usw.) gegriffen hätte. Dazu, ob der Kläger im April 1988 entschuldigt oder unentschuldigt gefehlt hat, liegen indessen keine Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vor, was nicht zuletzt auch die Beklagte anläßlich der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bedauert hat.
2. Aber auch wenn man von der Argumentation des Landesarbeitsgerichts ausgeht, kann das Urteil keinen Bestand haben.
a) Die Revision rügt zu Recht, das Landesarbeitsgericht habe keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen für seine Annahme eines schuldhaften Verstoßes gegen die Arbeitspflicht bei dem erneuten Auflaufen eines Arbeitszeitdefizits in den Monaten Februar bis April 1988 getroffen. Das Landesarbeitsgericht hat dazu - offensichtlich im Anschluß an die Argumentation der Beklagten - ausgeführt, dem Einwand des Klägers, ab Februar 1988 wegen der angeblichen Depressionen nicht mehr steuerungsfähig gewesen zu sein, stehe entgegen, daß er in der fraglichen Zeit durchaus regelmäßig - wenn auch verkürzt - gearbeitet habe. Dies trifft in dieser Allgemeinheit für den gesamten fraglichen Zeitraum tatsächlich nicht zu und wird auch durch entsprechende Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht belegt. Wie den Arbeitszeitabrechnungen zu entnehmen ist, ist der Kläger im Februar und März 1988 mit einiger Regelmäßigkeit zur Arbeit gekommen und gegangen, hat allerdings insgesamt verkürzt gearbeitet. Es fällt allerdings auf, daß er am 25. Februar 1988 erst um 12.45 Uhr, am 28. März 1988 erst um 12.08 Uhr und am 11. April 1988 erst um 11.30 Uhr kam und an letzterem Tag schon um 15.15 Uhr wieder ging. Das Arbeitszeitdefizit im April wurde dabei hauptsächlich durch die fehlende Arbeitszeit am 11., 27., 28. und 29. April 1988 bei völlig uneinheitlichen Arbeitszeiten aufgebaut. Danach ist schon die Schlußfolgerung, wer regelmäßig - wenn auch verkürzt - arbeite, könne für die Fehlstunden nicht arbeitsunfähig krank gewesen sein, weder durch den tatsächlichen Ablauf noch durch eine sachverständige, geschweige denn medizinische Feststellung belegt. Es bleibt vielmehr offen, ob der Kläger - zumindest im April 1988 - trotz einer durch Depressionen bedingten Arbeitsunfähigkeit oder Krankheit an den genannten Tagen gearbeitet hat. Die Revision zeigt insoweit zu Recht eine Verletzung der Denkgesetze auf: Es kann zwar durchaus sein, daß der Kläger bei dem verkürzten Arbeiten unentschuldigt gebummelt hat; das muß aber nicht so sein, sondern sein Verhalten kann auch auf krankhaften Depressionen beruhen, wofür die persönlichen Verhältnisse (Eheproblem, Schulden, Distanzierung von Eltern und Geschwistern) ebenso wie die Totalextraktion der Zähne und das geradezu auffällige Entschuldigungsverhalten zwischen dem 6. und 26. April 1988 sprechen. Eine Depression (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl., S. 335, 336) ist die diagnostisch unspezifische Bezeichnung für eine Störung der Affektivität, bei der ein depressives Syndrom mit trauriger Verstimmung, Antriebsarmut, Interesseverlust, Appetitverlust, Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen, psychomotorischer Erregung oder Hemmung, Schuldgedanken, Gefühlen der Wertlosigkeit, subjektiven und objektiven Einschränkungen der Konzentration und beim Denken im Vordergrund steht. Die depressive Stimmungsänderung kann in Abhängigkeit von Dauer, Intensität und Periodik des Auftretens unter Umständen pathologisch sein; bei der Depression, die in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten kann, kann es sich um eine Erkrankung handeln (vgl. Pschyrembel, aaO). Ob das Verhalten des Klägers in diesem Sinne entschuldigt war, hat das Landesarbeitsgericht aber nicht festgestellt.
b) Ein Widerspruch in den Entscheidungsgründen des Landesarbeitsgerichts liegt auch darin, daß es auf der einen Seite die Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit wegen der Fehlzeiten vom 6. bis 26. April 1988 dahingestellt bleiben läßt, auf der anderen Seite aber für denselben Zeitraum, nämlich u.a. auch April, von einem dem Kläger vorwerfbaren, also nicht durch Krankheit entschuldigten Stundendefizit ausgeht. Dieser Widerspruch fällt um so mehr ins Auge, als der Kläger vorgetragen hatte, schon seit Anfang 1988 habe der Hausarzt ihm Beruhigungsmittel verschrieben, seit Februar 1988 habe sich aber die Entwicklung bis zur völligen Verweigerung im April 1988 verschlimmert. Sein Versäumnis, während der Fehlzeit ab 6. April 1988 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, obwohl er in früheren Zeiten selbstverständlich solche Bescheinigungen beigebracht hat, kann nicht nur die Annahme eines schlicht vertragswidrigen Verhaltens, sondern auch eine krankheitsbedingte Fehlreaktion indizieren. Dafür könnte auch die ärztliche Auskunft der Frau Dr. H sprechen, die jedenfalls ab 29. April 1988 den Verdacht auf einen reaktiv depressiven Verstimmungszustand diagnostiziert und den Kläger vergeblich an einen Arzt für Neurologie und Psychiatrie verwiesen hat. Seine fehlende Einsicht kann - bei krankheitsbedingter Uneinsichtigkeit - gerade für die Richtigkeit einer solchen Diagnose sprechen.
c) Neben diesen von der Revision gerügten formellen Mängeln hat das Landesarbeitsgericht die Rechtsprechung des Senats vom 17. März 1988 (BAGE 58, 37 = AP Nr. 99 zu § 626 BGB) mißverstanden. Es hat zunächst zutreffend (S. 14 der Entscheidungsgründe) - und dies in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats - die Arbeitsversäumnisse des Klägers als Störung des Arbeitsverhältnisses im Leistungsbereich angesehen, die damit auch an sich - wenn sie dem Kläger zu Recht angelastet werden könnten - geeignet wären, die ordentliche Kündigung sozial zu rechtfertigen. Der Senat hat in der genannten Entscheidung - im übrigen für eine außerordentliche Kündigung - in häufigen Verspätungen ebenfalls eine konkrete Störung im Leistungsbereich und wegen der darin liegenden Vertragsverletzung einen Kündigungsgrund gesehen (vgl. aaO, zu II 4 der Gründe); er hat dann weiter darauf hingewiesen, im Rahmen der Interessenabwägung könnten durch die Leistungsstörung außerdem noch bedingte Beeinträchtigungen für den Betriebsablauf und den Betriebsfrieden sich zusätzlich nachteilig für den Arbeitnehmer auswirken (vgl. BAGE 58, 37, 51, 55 f. = AP, aaO, zu II 6 a und 7 der Gründe).
Soweit das Landesarbeitsgericht dann im Rahmen der abschließenden Interessenabwägung (S. 16 der Entscheidungsgründe) meint, es komme nicht darauf an, ob durch das Fehlverhalten des Klägers (auch noch) eine konkrete Störung des Arbeitsablaufs oder des Betriebsfriedens eingetreten sei, wähnt es sich zu Unrecht im Gegensatz zu der vom Senat vertretenen Auffassung, daß es im Rahmen der bei der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung notwendigen Interessenabwägung erheblich sei, ob es neben der Nichterfüllung einer vertraglichen Nebenpflicht auch zu nachteiligen Auswirkungen im Bereich des Arbeitgebers gekommen sei. Diese lägen nur dann vor, wenn Arbeitsablauf, Arbeitsorganisation oder der Betriebsfrieden konkret gestört seien. Eine abstrakte oder konkrete Gefährdung reiche nicht aus. Der Senat hat dies nur in dem oben bereits gekennzeichneten Sinne verstanden (ebenso übrigens: Börgmann, SAE 1989, 192; Kraft/Raab in Anm. zu EzA § 626 BGB n. F. Nr. 116; Willemsen in 2. Anm. zu EzA § 626 BGB n. F. Nr. 116; wenn diese Autoren sich in anderem Zusammenhang auch kritisch zu der genannten Entscheidung äußern), was das Landesarbeitsgericht bei der erneuten Entscheidung zu berücksichtigen haben wird.
3. Bei einer verhaltensbedingten Kündigung ist derjenige, der ein Gestaltungsrecht - wozu die Kündigung gehört - ausübt, darlegungs- und beweisbelastet für alle Umstände, die einen Kündigungsgrund darstellen können (BAGE 2, 333, 338 f. = AP Nr. 8 zu § 626 BGB, zu I 6 der Gründe; KR-Becker, aaO, § 1 KSchG Rz 181 ff.; KR-Hillebrecht, aaO, § 626 BGB Rz 275; Ascheid, Beweislastfragen im Kündigungsschutzprozeß, 1989, S. 61, 113 ff.).
a) Ihn trifft daher auch die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß solche Tatsachen nicht vorgelegen haben, die die Handlung des Arbeitnehmers als gerechtfertigt erscheinen lassen (vgl. BAG Urteile vom 12. August 1976 - 2 AZR 237/75 - AP Nr. 3 zu § 1 KSchG 1969, zu C III 1 c der Gründe; vom 24. November 1983 - 2 AZR 327/82 - AP Nr. 76 zu § 626 BGB; vom 6. August 1987 - 2 AZR 226/87 - AP Nr. 97 zu § 626 BGB, zu II 2 a der Gründe; vom 31. Mai 1990 - 2 AZR 535/89 - unveröffentlicht, zu II 2 a der Gründe und vom 12. Juli 1990 - 2 AZR 19/90 - unveröffentlicht, zu II 4 b der Gründe).
b) Der Umfang der dem Arbeitgeber obliegenden Darlegungslast ist allerdings davon abhängig, wie sich der Arbeitnehmer auf einen bestimmten Vortrag einläßt (vgl. BAG Urteil vom 12. August 1976 - 2 AZR 237/75 - AP, aaO; BAG Urteil vom 22. Juli 1982 - 2 AZR 30/81 - AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung, mit Anm. von Otto). Der Senat hat dazu in den angegebenen Entscheidungen ausgeführt, durch diese Regelung der Darlegungs- und Beweislast werde der Arbeitgeber nicht überfordert; ihr Umfang richte sich nämlich jeweils danach, wie substantiiert sich der Arbeitnehmer auf die Kündigungsgründe einlasse; der Arbeitgeber brauche bei einer Arbeitsversäumnis, die er zum Anlaß für eine Kündigung nehme, im Rechtsstreit über die Wirksamkeit dieser Kündigung nicht von vornherein alle nur denkbaren Rechtfertigungsgründe zu widerlegen. Der Arbeitnehmer sei vielmehr im Kündigungsprozeß nach § 138 Abs. 2 ZPO verpflichtet, den Vorwurf, unberechtigt gefehlt zu haben, unter genauer Angabe der Gründe, die ihn daran gehindert haben, seine Arbeitsleistung zu erbringen, zu bestreiten. Wenn er dabei geltend mache, er sei krank gewesen, sei dazu nicht unbedingt der Hinweis auf ein ärztliches Attest erforderlich, das der Arbeitnehmer ohnehin - insbesondere bei kurzfristigen Erkrankungen - nicht stets, sondern nur bei entsprechenden Vereinbarungen oder auf Verlangen des Arbeitgebers vorlegen müsse. Der Arbeitnehmer müsse aber dann, wenn er wegen der von ihm behaupteten Arbeitsunfähigkeit nicht auf ein ärztliches Attest verweisen könne, substantiiert darlegen, woran er erkrankt war und weshalb er deswegen nicht zur Arbeit erscheinen konnte.
c) Dieser abgestuften Darlegungslast hat der Kläger genügt, indem er unter Schilderung seiner persönlichen Situation (Trennung von der Ehefrau, Distanzierung von Eltern und Geschwistern, Schuldenprobleme, Totalextraktion der Zähne zum Jahresende 1987) behauptet hat, Anfang 1988 bei seinem Hausarzt in Behandlung gewesen zu sein, der ihm Beruhigungsmittel verschrieben habe, die Entwicklung habe sich dann aber bei anwachsendem Zeitdefizit bis zu einer völligen Verweigerung verschlimmert, wobei er am 8. und 29. April 1988 bei der Werksärztin, die er auch am 19. April 1988 habe aufsuchen wollen (Beweis: E), in Behandlung gewesen sei; diese habe ihn auch wegen Verdachts einer reaktiven Depression zum Facharzt empfohlen. Diese Umstände wie auch das geradezu auffällige Entschuldigungsverhalten mit jeweiligen Ankündigungen von einem auf den anderen Tag zeigen in der Tat an, daß das Verhalten des Klägers in der fraglichen Zeit aufgrund einer depressiven Erkrankung entschuldigt sein könnte. In Anwendung der bisherigen Rechtsprechung des Senats war es daher Sache der Beklagten, diese vorgetragenen Umstände zu entkräften. Wenn die Beklagte demgegenüber die Auffassung vertritt, der Kläger müsse seine krankheitsbedingte Verhinderung nachweisen, so mag dies zwar aufgrund der betrieblichen Regelungen (u.a. Aushang vom 12. Oktober 1983) für den Gehaltsfortzahlungsanspruch zutreffen, gilt aber aufgrund der im Kündigungsrecht ausdrücklich festgelegten Beweislastregel in § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG nicht für die Berechtigung der Kündigung. Der Senat sieht daher auch im konkreten Fall keine Veranlassung, die bisherige Rechtsprechung zu modifizieren. Es bleibt dem Landesarbeitsgericht als Tatsachengericht überlassen, im Rahmen einer vollständigen Würdigung des Sachverhalts und eines eventuellen Beweisergebnisses (§ 286 ZPO) die wechselseitig vorgetragenen Umstände zu berücksichtigen. Dem kann der Senat nicht vorgreifen.
4. Die Beklagte hat bisher nur durch Vernehmung der Ärztin Dr. H Beweis dafür angetreten, der Kläger sei in der Zeit vom 6. bis 26. April 1988 nicht arbeitsunfähig gewesen. Sie hat es ausdrücklich abgelehnt, sich auf Vernehmung des Hausarztes Dr. E oder des Facharztes Dr. C, bei dem der Kläger seit dem 23. Mai 1988 in Behandlung war, zu berufen oder Sachverständigenbeweis anzubieten. Dabei hat sie allerdings immer geltend gemacht, der Kläger habe seinerseits der ihm obliegenden Darlegungslast nicht genügt. Da der Senat dem nicht folgt, ist der Beklagten Gelegenheit zu geben, ihr Sachvorbringen unter Beweisantritten in dieser Hinsicht in der Tatsacheninstanz noch zu vervollständigen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die bisherigen, für die Beklagte wohl eher negativen Auskünfte der Werksärztin Dr. H vom 16. August 1988 und 24. März 1989.
Hillebrecht Triebfürst Bitter
Binzek Holst
Fundstellen