Entscheidungsstichwort (Thema)
Straßenbahnfahrer. Lenkzeitunterbrechung
Leitsatz (redaktionell)
Fahrer von Straßenbahnen im Linienverkehr mit einer Linienstrecke bis zu 50 Kilometern haben nicht die in Art. 6 und 7 VO Nr. 561/2006/EG vorgeschriebenen Lenkzeiten und Fahrtunterbrechungen einzuhalten. Sie sind keine Fahrer i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 2 FPersV.
Normenkette
BGB § 618; GewO § 106; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2, § 256 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. August 2007 – 23 Sa 951/07 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Lenkzeitunterbrechungen.
Rz. 2
Die Beklagte ist eine vom Land Berlin auf der Grundlage des Berliner Betriebe-Gesetzes (BerlBG) vom 9. Juli 1993 (zuletzt BerlBG vom 14. Juli 2006, GVBl. S. 827) errichtete rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts. Sie unterhält ua. den öffentlichen Personennahverkehr in Berlin. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 5. Januar 1987 als Straßenbahnfahrerin beschäftigt. Sie erbringt ihre Arbeitsleistung auf der Grundlage von Dienstplänen und wird auf verschiedenen Straßenbahnlinien eingesetzt, von denen keine Linienstrecke länger als 20 Kilometer ist. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin vom 31. August 2005 idF des 2. Änderungstarifvertrags vom 9. Mai 2006 (TV-N) anzuwenden. § 9 TV-N enthält besondere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte bei deren Einsatz als Omnibus-, U-Bahn- und Straßenbahnfahrer sowie als Triebfahrzeugführer. Die Vorschrift sieht alternative Pausen und Lenkzeitunterbrechungen vor, die sog. Blockpausen-Regelung und die sog. Sechstel-Regelung. Die Beklagte wendet auf die Dienste der Klägerin die “Sechstel-Regelung” an. Hiernach kann die durch das Arbeitszeitgesetz oder nach der Fahrpersonalverordnung (FPersV) zu gewährende Pause durch Lenkzeitunterbrechungen abgegolten werden, wenn deren Gesamtdauer mindestens ein Sechstel der im Dienst- und Fahrplan vorgesehenen Lenkzeit beträgt. Nach den von der Beklagten erstellten Dienstplänen wird die Lenkzeit während des Einsatzes der Klägerin zu keiner Zeit durchgehend 45 Minuten lang unterbrochen.
Rz. 3
Mit ihrer im Oktober 2006 eingereichten Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Beklagte habe ihr nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 der Fahrpersonalverordnung (FPersV) idF vom 27. Juni 2005 iVm. Art. 7 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr nach einer Lenkzeit von viereinhalb Stunden (= 270 Minuten) eine Unterbrechung der Lenkzeit von mindestens 45 Minuten zu gewähren, sofern sie den Dienst nicht anschließend beende.
Rz. 4
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Lenkzeitunterbrechung von 45 Minuten nach einer Gesamtlenkzeitdauer von 270 Minuten zu gewähren, sofern die Klägerin keine Ruhezeit nimmt;
2. vorsorglich – für den Fall der Unzulässigkeit des Klageantrags zu 1 – festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, bei der Schicht-/Dienstplaneinteilung der Klägerin zu gewähren, dass nach einer Gesamtlenkzeitdauer von 270 Minuten eine Lenkzeitunterbrechung von 45 Minuten eingelegt werden kann, sofern die Klägerin keine Ruhezeit nimmt;
3. äußerst vorsorglich – für den Fall der Unzulässigkeit dieses Klageantrags – festzustellen, dass die Klägerin berechtigt ist, nach einer Gesamtlenkzeitdauer von 270 Minuten eine Lenkzeitunterbrechung von 45 Minuten einzulegen, sofern sie keine Ruhezeit nimmt.
Rz. 5
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach ihrer Auffassung sind die Bestimmungen der FPersV über die Lenkzeiten und Lenkzeitunterbrechungen auf Straßenbahnfahrer nicht anzuwenden. Selbst wenn die Fahrer von Straßenbahnen grundsätzlich erfasst würden, greife zu ihren Gunsten die Ausnahmevorschrift des § 18 FPersV. Sie sei eine Behörde iSd. Vorschrift und verwende ihre Fahrzeuge für öffentliche Dienstleistungen, die nicht im Wettbewerb mit dem Kraftverkehrsgewerbe stünden.
Rz. 6
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer von dem Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin nunmehr, die Verpflichtung der Beklagten nach Maßgabe des im Revisionsverfahren allein verfolgten Antrags zu 2 festzustellen. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die Revision ist unbegründet.
Rz. 8
A. Die Revision ist zulässig.
Rz. 9
I. Zur ordnungsgemäßen Begründung der Revision gehört die Angabe der Revisionsgründe, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO. Die Revisionsbegründung muss die vermeintlichen Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs erkennbar sind. Sie muss sich mit den Urteilsgründen des angefochtenen Urteils auseinandersetzen. Dadurch soll ua. sichergestellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Revisionsklägerin das angefochtene Urteil überprüft und mit Blick auf die Rechtslage genau durchdenkt (vgl. Senat 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – zu A II 1 der Gründe, BAGE 114, 299).
Rz. 10
II. Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung entgegen der Auffassung der Beklagten gerecht. Die Klägerin beschränkt sich nicht auf die Behauptung, das Landesarbeitsgericht habe § 1 Abs. 1 FPersV “falsch” angewendet, wie die Beklagte meint. Die Revisionsbegründung zeigt vielmehr argumentativ auf, weshalb nach Auffassung der Klägerin der Auslegung des Landesarbeitsgerichts zum Geltungsbereich der FPersV nicht zuzustimmen sei. Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs sind erkennbar. Eine Revisionsbegründung muss weder “schlüssig” sein, noch muss sie sich vorsorglich der Argumentation des Berufungsgerichts anschließen und auf dieser Grundlage bisher nicht behandelte Aspekte in den Rechtsstreit einführen. Eine Auseinandersetzung mit allen Details der Begründung des Berufungsurteils ist nicht erforderlich.
Rz. 11
B. In der Sache ist die Revision ohne Erfolg.
Rz. 12
I. Die Klage ist zulässig.
Rz. 13
1. Der Klageantrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er zielt auf eine Dienstplangestaltung, die für die Klägerin nach einer ununterbrochenen Gesamtlenkzeit von 270 Minuten eine “Lenkzeitunterbrechung” vorsieht. Der Begriff “Lenkzeitunterbrechung” entspricht dem in Art. 7 der Verordnung Nr. 561/2006/EG und in § 1 Abs. 1 Nr. 2 FPersV verwendeten Begriff “Fahrtunterbrechung”. Der Klägerin soll damit ein Zeitraum zur Verfügung gestellt werden, in dem sie keine Fahrtätigkeit auszuüben und keine anderen Arbeiten auszuführen hat und den sie ausschließlich zur Erholung nutzen kann (vgl. Art. 4 Buchst. d der Verordnung Nr. 561/2006 (VO Nr. 561/2006/EG) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/98 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. EU Nr. L 102 vom 11. April 2006 S. 1)).
Rz. 14
2. Der in der Revision allein verfolgte Feststellungsantrag ist nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse folgt bereits aus dem Streit der Parteien über den Umfang der Leistungspflichten der Klägerin (vgl. Senat 3. Dezember 2002 – 9 AZR 462/01 – zu A I 2 der Gründe, BAGE 104, 73). Das Feststellungsurteil ist geeignet, die zwischen den Parteien streitige Rechtsfrage abschließend zu klären.
Rz. 15
II. Die Klage ist unbegründet.
Rz. 16
1. Da die Klägerin die Feststellung einer gegenwärtig bestehenden Verpflichtung zur Regelung der Arbeitszeit begehrt, ist auf den erhobenen Anspruch das zur Zeit der Revisionsentscheidung geltende Recht anzuwenden (vgl. Senat 16. März 2004 – 9 AZR 93/03 – zu B der Gründe, BAGE 110, 60). Deshalb kommt nicht die vom Landesarbeitsgericht behandelte Verordnung zur Durchführung des Fahrpersonalgesetzes (FPersV) vom 27. Juni 2005 (BGBl. I S. 1882), sondern die nach Verkündung des Berufungsurteils in Kraft getretene FPersV idF vom 22. Januar 2008 (BGBl. I S. 54) zur Anwendung. Die Ermächtigungsgrundlage zu deren Erlass findet sich in dem Fahrpersonalgesetz (FPersG) vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 640) idF vom 6. Juli 2007 (BGBl. I S. 1270). Europarechtlich gilt inzwischen die VO Nr. 561/2006/EG und nicht mehr die von der Klägerin herangezogene VO Nr. 3820/85/EWG.
Rz. 17
2. Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich nicht aus § 618 Abs. 1 BGB iVm. Art. 7 der Verordnung Nr. 561/2006/EG.
Rz. 18
a) Nach § 618 Abs. 1 BGB hat der Arbeitgeber Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Arbeitnehmer gegen Gefahr für Leben und Gesundheit so weit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet. Diese Pflicht des Arbeitgebers wird durch die Normen des europäischen und des nationalen Arbeitsschutzrechts konkretisiert. Deren Einhaltung wird damit zugleich arbeitsvertraglich geschuldet. Das wirkt sich auf das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106 Satz 1 GewO) aus; denn die im Interesse des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer festgelegten Grenzen der höchstzulässigen Arbeitszeiten (st. Rspr., vgl. Senat 11. Juli 2006 – 9 AZR 519/05 – Rn. 35, BAGE 119, 41) hat der Arbeitgeber einzuhalten. Zu beachten sind auch die Regelungen des Fahrpersonalrechts über die höchstzulässigen Lenkzeiten und deren Unterbrechungen nach Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG. Dem steht nicht entgegen, dass das Fahrpersonalrecht nicht nur dem Gesundheitsschutz, sondern auch der Sicherheit im Straßenverkehr dient und die europarechtlichen Vorschriften zusätzlich den Schutz des grenzüberschreitenden Wettbewerbs bezwecken.
Rz. 19
b) Zwar hat nach Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG ein Fahrer nach einer Lenkdauer von viereinhalb Stunden eine ununterbrochene Fahrtunterbrechung von wenigstens 45 Minuten einzulegen, sofern sich keine Ruhezeit anschließt. Diese VO ist ohne Umsetzung in das nationale Recht verbindlich (Art. 249 Unterabs. 2 EG). Sie ist aber auf die Klägerin nicht anzuwenden, weil sie nach Art. 3 Buchst. a nicht für Beförderungen im Straßenverkehr mit Fahrzeugen, die zur Personenbeförderung im Linienverkehr verwendet werden, gilt, wenn die Linienstrecke nicht mehr als 50 Kilometer beträgt. Die der Klägerin zugewiesenen Strecken liegen unter 50 Kilometern.
Rz. 20
3. Der erhobene Anspruch kann auch nicht auf § 618 BGB iVm. den Vorschriften des FPersG gestützt werden.
Rz. 21
Das FPersG gilt für die Beschäftigung und für die Tätigkeit des Fahrpersonals von Straßenbahnen, soweit sie am Verkehr auf öffentlichen Straßen teilnehmen (§ 1 Abs. 1 FPersG). Eine Teilnahme am Verkehr auf öffentlichen Straßen liegt vor, wenn die Straßenbahn nicht auf einem eigenen, vom sonstigen Straßenverkehr getrennten Gleiskörper fährt. Von dieser Voraussetzung kann nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ausgegangen werden. Das FPersG selbst macht keine Vorgaben zu höchstzulässigen Lenkzeiten und deren Unterbrechungen. § 2 FPersG enthält lediglich einen umfangreichen Katalog der Gegenstände, die das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und mit Zustimmung des Bundesrats durch Rechtsverordnung regeln kann. Dazu gehört nach § 2 Nr. 3 Buchst. a FPersG die Befugnis, zur Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr oder zum Schutz von Leben und Gesundheit der Mitglieder des Fahrpersonals Arbeitszeiten, Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Schichtzeiten festzulegen.
Rz. 22
4. Die auf der Grundlage von § 2 FPersG erlassene FPersV verpflichtet die Beklagte ebenfalls nicht, der Klägerin die beanspruchten Lenkzeitunterbrechungen iVm. § 618 BGB zu gewähren.
Rz. 23
a) Entgegen der Revision ist nicht bereits deshalb von der Anwendbarkeit der FPersV auf das Rechtsverhältnis der Parteien auszugehen, weil Straßenbahnen in den Geltungsbereich des FPersG fallen. Eine derartige Vermutung besteht nicht. Sie lässt sich nicht aus Art. 80 GG herleiten. Eine Ermächtigungsnorm beschränkt den Verordnungsgeber zwar auf das durch die Ermächtigungsgrundlage vorgegebene “Normprogramm” (vgl. Bauer in Dreier GG 2. Aufl. Art. 80 Rn. 42 f.). Der Verordnungsgeber unterliegt aber keiner Pflicht zur Rechtssetzung (vgl. Bauer in Dreier Rn. 53). Ihm steht frei, seine Befugnis nicht voll auszuschöpfen, insbesondere den Anwendungsbereich der von ihm zu erlassenden Rechtsverordnung enger als den Geltungsbereich der Ermächtigungsnorm zu fassen.
Rz. 24
Gegen die Annahme einer Vermutung spricht im Übrigen die Differenziertheit der Regelungsgegenstände, die dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach § 2 FPersG zur eigenen Rechtssetzung überlassen sind, nämlich zur Durchführung der europarechtlichen Verordnungen (Nr. 1 und Nr. 1a), zur Durchführung des Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) (Nr. 2), zur Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr oder zum Schutz von Leben und Gesundheit der Mitglieder des Fahrpersonals (Nr. 3) und schließlich zur Führung eines zentralen Kontrollgerätekartenregisters (Nr. 4). Von diesem umfangreichen Katalog hat das Bundesverkehrsministerium bei Erlass der FPersV auch Gebrauch gemacht. Das zeigen die in Befolgung des Zitiergebots des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG aufgeführten Nummern und Buchstaben des § 2 FPersG. Gleichwohl hat der Verordnungsgeber beispielsweise darauf verzichtet, Regelungen zur Durchführung der VO Nr. 561/2006/EG zu erlassen. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist deshalb allein der Inhalt der Rechtsverordnung maßgeblich.
Rz. 25
b) Für die danach gebotene Auslegung ist von folgendem Wortlaut des § 1 FPersV auszugehen:
“§ 1 Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr
(1) Fahrer
1. von Fahrzeugen, die zur Güterbeförderung dienen und deren zulässige Höchstmasse einschließlich Anhänger oder Sattelanhänger mehr als 2,8 Tonnen und nicht mehr als 3,5 Tonnen beträgt, sowie
2. von Fahrzeugen, die zur Personenbeförderung dienen, nach ihrer Bauart und Ausstattung geeignet und dazu bestimmt sind, mehr als neun Personen einschließlich Fahrer zu befördern, und im Linienverkehr mit einer Linienlänge bis zu 50 Kilometern eingesetzt sind,
haben Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe der Artikel 4, 6 bis 9 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 … einzuhalten.
…”
Rz. 26
aa) Die Klägerin macht geltend, dass die von ihr gelenkten Straßenbahnen zur Personenbeförderung dienen, nach ihrer Bauart und Ausstattung geeignet und dazu bestimmt sind, mehr als neun Personen einschließlich Fahrer zu befördern. Sie werden auch im Linienverkehr mit einer Linienlänge bis zu 50 Kilometer eingesetzt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 FPersV). Daraus ergibt sich indessen noch nicht die Geltung der europarechtlichen Arbeitszeitbestimmungen.
Rz. 27
bb) Dagegen spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift.
Rz. 28
(1) Danach haben “Fahrer” von “Fahrzeugen” unter den näher bestimmten Voraussetzungen Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe der Art. 4, 6 bis 9 und 12 der VO Nr. 561/2006/EG einzuhalten. “Nach Maßgabe” bedeutet nach allgemeinem Sprachverständnis, dass die angeführten Bestimmungen “das Maß” vorgeben, das für die Normadressaten verbindlich ist. § 1 Abs. 1 FPersV gibt dementsprechend vor, unter welchen Voraussetzungen in der Bundesrepublik Deutschland das europäische Recht auf Sachverhalte anzuwenden ist, die – wie hier – nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich der VO Nr. 561/2006/EG fallen (zur Güterbeförderung vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 561/2006/EG: Fahrzeuge, deren zulässige Höchstmasse einschließlich Anhänger oder Sattelanhänger 3,5 Tonnen übersteigt). Zu beachten sind danach im Einzelnen: Art. 4 (Begriffsbestimmungen), Art. 6 (Lenkzeit), Art. 7 (Fahrtunterbrechung), Art. 8 (Ruhezeit), Art. 9 (Ruhezeitunterbrechungen), Art. 12 (Abweichung aus Gründen der Sicherheit). Das heißt, bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen ergibt sich als Rechtsfolge ua. die Verpflichtung von Fahrern, die in Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG vorgeschriebenen Fahrt- oder Lenkzeitunterbrechungen einzuhalten.
Rz. 29
(2) Entgegen der Revision kann die Verweisung auf Art. 4 der VO Nr. 561/2006/EG nicht als bloße Rechtsfolgenverweisung verstanden werden. Denn Art. 4 der EG-Verordnung enthält nur Begriffsdefinitionen: Beförderung im Straßenverkehr (Buchst. a), Fahrzeug (Buchst. b), Fahrer (Buchst. c), Fahrtunterbrechung (Buchst. d), andere Arbeiten (Buchst. e), Ruhepause (Buchst. f), tägliche Ruhezeit (Buchst. g), wöchentliche Ruhezeit (Buchst. h), Woche (Buchst. i), Lenkzeit (Buchst. j), Tageslenkzeit (Buchst. k), Wochenlenkzeit (Buchst. l), zulässige Höchstmasse (Buchst. m), Personenlinienverkehr (Buchst. n), Mehrfahrerbetrieb (Buchst. o), Verkehrsunternehmen (Buchst. p) und Lenkdauer (Buchst. q). Die umfassende Bezugnahme auf den gesamten Art. 4 verdeutlicht, dass die dort verwendeten Begriffe für die Anwendung des § 1 Abs. 1 FPersV insgesamt bestimmend sein sollen. Hätte der deutsche Verordnungsgeber die europarechtlichen Begriffsbestimmungen ausschließlich auf die Begriffe “Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten” bezogen, wäre diese Regelungstechnik nicht verständlich. Es wäre dann ausreichend gewesen, lediglich auf die einschlägigen Buchstaben von Art. 4 der VO Nr. 561/2006/EG zu verweisen.
Rz. 30
(3) Soweit die Klägerin die Geltung der arbeitszeitrechtlichen Begriffe des EG-Rechts (zB auch des Begriffs “Woche”) aus früheren Fassungen des § 1 Abs. 1 FPersV und der VO Nr. 3820/85/EWG ableiten will, geht dies schon deshalb fehl, weil sie auf aufgehobenes Recht Bezug nimmt.
Rz. 31
(4) Die Revision verweist darauf, § 1 Abs. 1 FPersV nehme auf die EG-Verordnung erst Bezug, nachdem der sachliche “Geltungsbereich der Vorschrift im gleichen Satz” unter den Nummern 1 bis 2 definiert worden sei. Deshalb spreche nichts dafür, dass der deutsche Verordnungsgeber den “soeben definierten Anwendungsbereich” durch die Bezugnahme auf die EG-Verordnung wieder eingeschränkt habe. Das überzeugt nicht. Eine (spätere) Einschränkung setzt einen ursprünglich weitergehenden Geltungsbereich voraus. Ebendieser soll auch noch durch die “Maßgabe” in Art. 4 bestimmt werden. Eine andere Auslegung ist nicht mit dem Wortlaut der Norm vereinbar.
Rz. 32
(5) Straßenbahnen erfüllen die in Art. 4 Buchst. b der VO Nr. 561/2006/EG aufgestellten Begriffsmerkmale nicht. Als Fahrzeug im Sinne der VO wird dort bezeichnet:
“Ein Kraftfahrzeug, eine Zugmaschine, ein(en) Anhänger oder Sattelanhänger oder eine Kombination dieser Fahrzeuge gemäß den nachstehenden Definitionen:
– ‘Kraftfahrzeug’: jedes auf der Straße verkehrende Fahrzeug mit Eigenantrieb, das normalerweise zur Personen- oder Güterbeförderung verwendet wird, mit Ausnahme von dauerhaft auf Schienen verkehrenden Fahrzeugen;
– …”
Rz. 33
Beide Parteien meinen zutreffend, dass eine Straßenbahn nicht dieser Definition entspricht.
Rz. 34
cc) Für die hier vertretene Ansicht sprechen auch rechtsstaatliche Erwägungen. Die FPersV erläutert die in ihr verwendeten Begriffe nicht näher. Auf den allgemeinen Sprachgebrauch kann angesichts der Vielzahl der unbestimmten Rechtsbegriffe nicht zurückgegriffen werden. Definitionen sind aus rechtsstaatlichen Gründen insbesondere wegen der Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit in § 21 Abs. 2 Nr. 1 FPersV unverzichtbar. So handelt derjenige ordnungswidrig iSv. § 8 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a FPersG, der als Fahrer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 1 Abs. 1 FPersV Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen oder Ruhezeiten nicht einhält.
Rz. 35
dd) Für eine vom Wortlaut abweichende Auslegung ist auch nach dem systematischen Zusammenhang der Bestimmungen kein Raum.
Rz. 36
Das zeigt § 1 Abs. 5 Satz 1 FPersV. Adressat der Vorschrift ist “der Unternehmer”, der nach dem für entsprechend anwendbar erklärten Art. 10 Abs. 2 der VO Nr. 561/2006/EG für die Organisation seines Verkehrsunternehmens verantwortlich ist. Als solcher hat er dafür zu sorgen, “dass die Vorschriften über die Lenkzeiten, die Fahrtunterbrechungen und die Ruhezeiten gemäß den Artikeln 4, 6 bis 9 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 eingehalten werden”. Die Vorschrift ist insoweit “Gegenstück” zu § 1 Abs. 1 FPersV. Beide legen den Personenkreis fest, der für die Einhaltung der dort geregelten Arbeitszeitbestimmungen Verantwortung trägt und bei Verstößen mit Bußgeld rechnen muss (für den Unternehmer vgl. § 21 Abs. 1 FPersV). Anders als in § 1 Abs. 1 FPersV enthält § 1 Abs. 5 FPersV keine Hinweise auf “Fahrer” oder auf die von ihnen gelenkten “Fahrzeuge” mit der Folge, dass der Unternehmer aufgrund der uneingeschränkten Bezugnahme auf Art. 4 der VO Nr. 561/2006/EG ausschließlich für die Einhaltung von Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 FPersV genannten Fahrzeuge verantwortlich ist. Eine unterschiedliche Behandlung desselben Sachverhalts je nach Betroffenheit des Fahrers oder des Unternehmers erscheint ausgeschlossen.
Rz. 37
ee) Gegen die Auffassung der Klägerin ist des Weiteren die Regelung in § 1 Abs. 3 FPersV anzuführen.
Rz. 38
(1) § 1 Abs. 3 FPersV sieht für Fahrer von Kraftomnibussen im Linienverkehr mit einer Linienlänge bis zu 50 Kilometern “Abweichungen von Absatz 1” iVm. Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG vor. Das Ausmaß der zulässigen Abweichungen der Fahrtunterbrechungen ist abhängig vom Haltestellenabstand. Gestattet ist ua. die Sechstel-Pausenregelung, vergleichbar der Regelung in § 9 TV-N. Für Fahrer von Straßenbahnen ist keine vergleichbare Ausnahme vorgesehen. Sie hätten damit Anspruch auf Lenkzeitunterbrechungen nach Maßgabe des EG-Rechts. Eine solche, aus Sicht der Klägerin ausschließlich die Fahrer von Kraftomnibussen benachteiligende Regelung leuchtet nicht ein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Lenken von Straßenbahnen im allgemeinen Straßenverkehr aufgrund ihrer Schienengebundenheit und der oft allein ihnen vorbehaltenen Straßenteile generell mit dem Fahren von Kraftomnibussen vergleichbar ist. Auch die Klägerin behauptet nicht, Straßenbahnfahrer würden physisch und psychisch derart stärker belastet als Omnibusfahrer, dass sie deshalb – anders als diese – auf die weiträumigen Lenkzeitunterbrechungen des Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG angewiesen seien.
Rz. 39
(2) Soweit die Klägerin geltend macht, die Nichtanwendung der FPersV auf die Fahrer von Straßenbahnen hätte wegen der Ausnahmeregelung für Kraftomnibusse die Folge, dass § 1 Abs. 1 FPersV keinen Anwendungsbereich mehr hätte, so trägt auch dieses Argument nicht. Das ergibt sich aus zwei Gründen. Zum einen betrifft die Ausnahmeregelung nur Art. 7 der VO Nr. 561/2006/EG und nicht auch Art. 6 und 8. Zum anderen nimmt § 1 Abs. 5 nicht nur auf die in Nr. 2 des Abs. 1 geregelte Personenbeförderung Bezug, sondern auf den gesamten Abs. 1 und damit auch auf die Güterbeförderung.
Rz. 40
ff) Schließlich stützt die Entstehungsgeschichte der FPersV nicht die von der Klägerin vertretene Auslegung.
Rz. 41
(1) Im Schrifttum war bereits zur Zeit der früheren Fassung der FPersV unter der Geltung der VO Nr. 3820/85/EWG umstritten, ob die Fahrer von Straßenbahnen von § 1 Abs. 1 FPersV erfasst werden. Die beiden Fassungen der FPersV unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der in Bezug genommenen europarechtlichen Vorschriften. Nach § 1 Abs. 1 FPersV hatten “Fahrer” von “Fahrzeugen” (Nr. 1 und Nr. 2) “Lenkzeiten, Lenkzeitunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe der Artikel 1, 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1, Unterabs. 2 und 4 und Abs. 2, Artikel 7 Abs. 1 und 4 Satz 1, Artikel 8 Abs. 1, 2 und 6, Artikel 9 Unterabs. 2 und Artikel 12 Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 …” einzuhalten. Art. 1 der VO Nr. 3820/85/EWG enthielt – vergleichbar mit jetzt Art. 4 der VO Nr. 561/2006/EG – die für die Anwendung der Sozialvorschriften maßgeblichen Begriffsbestimmungen. Die uneingeschränkte Bezugnahme auf den gesamten Art. 1 der VO Nr. 3820/85/EWG wurde als Beleg dafür angeführt, dass sämtliche Definitionen auch im Anwendungsbereich der FPersV gültig sein sollten (Rang Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr 17. Aufl. S. 136). Dem widersprach ohne nähere Begründung ein Teil des Schrifttums (Nowacki Das Fahrpersonalrecht S. 111; Heimlich/Hamm/Grun/Fütterer Fahrpersonalrecht 2. Aufl. § 1 FPersV Rn. 4).
Rz. 42
(2) Erhellend wirkt die Entstehungsgeschichte des § 1 Abs. 1 FPersV idF vom 27. Juni 2005. § 1 Abs. 1 FPersV verwies ursprünglich ausschließlich auf die unmittelbar die Arbeitszeit des Fahrpersonals regelnden EG-Bestimmungen. Die Vorschrift wurde durch die Verordnung zur Änderung der Fahrpersonalverordnung vom 20. Mai 1998 (BGBl. I S. 1127) ergänzt. Zusätzlich wurde Art. 1 der VO Nr. 3820/85/EWG aufgenommen. Zur Begründung ist im Gesetzgebungsverfahren ausgeführt worden: “Die entsprechende Anwendung der Sachregelung der EG (Lenk-, Unterbrechungs- und Ruhezeiten) bedingt auch die Anwendung der Begriffsbestimmungen nach Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85” (BR-Drucks. 182/98 S. 8).
Rz. 43
(3) Es kann unterstellt werden, dass dem Verordnungsgeber des Jahres 2008 die Kontroverse im Schrifttum bekannt war. Wenn er gleichwohl an der bisherigen Verweisungstechnik festgehalten hat, lässt dies den Schluss zu, dass Fahrer von Straßenbahnen weiterhin nicht unter den Geltungsbereich von § 1 Abs. 1 FPersV fallen sollten.
Rz. 44
5. Die für das Fahrpersonal geltenden Art. 5 bis 9 der VO Nr. 561/2006/EG sind für alle Behördenfahrzeuge nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 FPersV ausgenommen. Ob diese Ausnahme auch auf die zur Personenbeförderung bestimmten Straßenbahnen einer Anstalt des öffentlichen Rechts – wie der Beklagten – anwendbar ist, bedarf keiner abschließenden Stellungnahme des Revisionsgerichts. Denn die Fahrer von Straßenbahnen – ob nun im privaten oder behördlichen Eigentum – werden nach der Maßgabe in § 1 FPersV nicht von den Bestimmungen über Lenkzeiten und Fahrtunterbrechungen in Art. 6 bis 9 der VO Nr. 561/2006/EG erfasst.
Rz. 45
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Düwell, Gallner, Vermerk, Hintloglou, Merte
Die Richterin am BAG Reinecke ist infolge Urlaubs verhindert.
Düwell
Fundstellen