Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigungszeit. Freundschaftspionierleiter
Leitsatz (redaktionell)
Anrechnung der Zeit als Freundschaftspionierleiter auf die Beschäftigungszeit nach § 19 BAT-O (hier: Richtlinie 76 und Richtlinie 84); hinsichtlich Richtlinie 84 Parallelsache zu – 6 AZR 560/94 –
Normenkette
BGB § 362; ZPO § 561
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 04.05.1994; Aktenzeichen 2 Sa 2305/93) |
ArbG Bautzen (Urteil vom 03.11.1993; Aktenzeichen 11 Ca 11329/93 GR) |
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Chemnitz vom 4. Mai 1994 – 2 Sa 2305/93 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Zahlung einer Abfindung.
Die Klägerin war nach dem Abschluß eines Hochschulstudiums aufgrund eines Arbeitsvertrags mit dem Rat der Stadt G. vom 1. August 1980 bis zum 30. Juni 1990 als Freundschaftspionierleiterin und Diplomlehrerin für Staatsbürgerkunde an der …. Oberschule in G. beschäftigt. Seit dem 1. Juli 1990 war sie bei der Beklagten als Horterzieherin tätig, bis das Arbeitsverhältnis durch Kündigung der Beklagten wegen mangelnden Bedarfs am 30. September 1992 endete. Ihr monatliches Bruttogehalt betrug zuletzt 2.784,– DM.
Die Klägerin stützt ihren Anspruch auf § 2 des Tarifvertrags zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 (TV soziale Absicherung). Darin heißt es:
„§ 2
Abfindung
(1) Ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis gekündigt wird, weil
a) er wegen mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar ist oder
…
erhält eine Abfindung …
(2) Die Abfindung beträgt für jedes volle Jahr der Beschäftigungszeit (§ 19 BAT-O ohne die nach der Übergangsvorschrift Nr. 3 hierzu berücksichtigten Zeiten bzw. die vergleichbaren, für die Arbeiter geltenden Bestimmungen) ein Viertel der letzten Monatsvergütung (§ 26 BAT-O zuzüglich der allgemeinen Zulage) bzw. des letzten Monatstabellenlohnes (§ 21 Abs. 3 MTV Arb-O, § 20 Abs. 2 BMT-G-O ggf. zuzüglich des Sozialzuschlags), mindestens aber die Hälfte und höchstens das Fünffache dieser Vergütung bzw. dieses Lohnes. …”
In § 19 des Tarifvertrags zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10. Dezember 1990 und den Übergangsvorschriften dazu (fortan: Übergangsvorschrift § 19 BAT-O) heißt es:
„§ 19
Beschäftigungszeit
(1) Beschäftigungszeit ist die bei demselben Arbeitgeber nach Vollendung des 18. Lebensjahres in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist.
…
(2) Übernimmt ein Arbeitgeber eine Dienststelle oder geschlossene Teile einer solchen von einem Arbeitgeber, der von diesem Tarifvertrag erfaßt wird oder diesen oder einen Tarifvertrag wesentlich gleichen Inhalts anwendet, so werden die bei der Dienststelle bis zur Übernahme zurückgelegten Zeiten nach Maßgabe des Absatzes 1 als Beschäftigungszeit angerechnet.
…
Übergangsvorschriften für Zeiten vor dem 1. Januar 1991:
- Als Übernahme im Sinne des Absatzes 2 gilt auch die Überführung von Einrichtungen nach Artikel 13 des Einigungsvertrages.
- Ist infolge des Beitritts der DDR der frühere Arbeitgeber weggefallen, ohne daß eine Überführung nach Artikel 13 des Einigungsvertrages erfolgt ist, gelten als Beschäftigungszeit nach Maßgabe des Absatzes 1
…
c) für Angestellte der Mitglieder der Mitgliederverbände der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände
Zeiten der Tätigkeit bei zentralen oder örtlichen Staatsorganen und ihren nachgeordneten Einrichtungen oder sonstigen Einrichtungen oder Betrieben, soweit der Arbeitgeber deren Aufgaben bzw. Aufgabenbereiche derselben ganz oder überwiegend übernommen hat.
…
4. Von der Berücksichtigung als Beschäftigungszeit sind ausgeschlossen
- Zeiten jeglicher Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit (einschließlich der Verpflichtung zu informeller/inoffizieller Mitarbeit),
- Zeiten einer Tätigkeit als Angehöriger der Grenztruppen der DDR,
- Zeiten einer Tätigkeit, die aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden war.
Die Übertragung der Tätigkeit aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe wird insbesondere vermutet, wenn der Angestellte
aa) vor oder bei Übertragung der Tätigkeit eine hauptamtliche oder hervorgehobene ehrenamtliche Funktion in der SED, dem FDGB, der FDJ oder einer vergleichbar systemunterstützenden Partei oder Organisation innehatte,
bb) als mittlere oder obere Führungskraft in zentralen Staatsorganen, als obere Führungskraft beim Rat eines Bezirkes, als Vorsitzender des Rates eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt (Oberbürgermeister) oder in einer vergleichbaren Punktion tätig war,
cc) hauptamtlich Lehrender an den Bildungseinrichtungen der staatstragenden Parteien oder einer Massen- oder gesellschaftlichen Organisation war oder
dd) Absolvent der Akademie für Staat und Recht oder einer vergleichbaren Bildungseinrichtung war.
Der Angestellte kann die Vermutung widerlegen.
…”
Unter Berücksichtigung der Beschäftigungszeit seit dem 1. Juli 1990 zahlte die Beklagte an die Klägerin eine Abfindung in Höhe von 1.392,50 DM nach § 2 TV soziale Absicherung. Die Zahlung einer weitergehenden Abfindung lehnte die Beklagte ab, weil die Tätigkeit als Freundschaftspionierleiterin der Klägerin aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe im Sinne der Nr. 4 Satz 1 Buchst. c Übergangsvorschrift § 19 BAT-O übertragen worden sei.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, auch die Zeit vom 1. August 1980 bis zum 30. Juni 1990 sei als Beschäftigungszeit anzurechnen. Ihre Aufgabe habe vorrangig in der Vorbereitung von Freizeitveranstaltungen bestanden, wie Organisation von Kinderfesten und von Auftritten des Chors oder des Blasorchesters. Der Tatbestand von Nr. 4 Satz 1 Buchst. c Doppelbuchst. aa Übergangsvorschrift § 19 BAT-O sei schon deshalb nicht erfüllt, weil sie die Funktion einer Freundschaftspionierleiterin nicht vor oder bei Übertragung der Tätigkeit ausgeübt habe.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 6.659,50 DM brutto gleich netto Abfindung nebst 4 % Zinsen hieraus seit 23. Juli 1993 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, daß der Klägerin die Tätigkeit als Freundschaftspionierleiterin aufgrund ihrer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden sei, folge daraus, daß sie in dieser Funktion hauptamtliche politische Funktionärin der Freien Deutschen Jugend (FDJ) gewesen sei. Die Berufung der hauptberuflichen Freundschaftspionierleiter sei durch die Sekretariate der Kreisleitungen der FDJ erfolgt. Diese seien auch Dienstvorgesetzte gewesen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen die Klage als unbegründet abgewiesen.
I. Die Klägerin hat gegen die Beklagte nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 TV soziale Absicherung keinen Anspruch auf die verlangte höhere Abfindung. Dem Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis darin zu folgen, daß die Zeit vor dem 1. Juli 1990 nicht als Beschäftigungszeit berücksichtigt werden kann. Die Zeit, in der die Klägerin als Freundschaftspionierleiterin tätig war, ist von der Berücksichtigung als Beschäftigungszeit ausgeschlossen. Dies folgt aus Nr. 4 Satz 1 Buchst. c Übergangsvorschrift § 19 BAT-O.
Diese Vorschrift schließt Zeiten einer Tätigkeit von der Berücksichtigung als Beschäftigungszeit aus, die aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden war. Dies trifft für die Tätigkeit der Klägerin als Freundschaftspionierleiterin zu.
1. Die Tätigkeit der Klägerin zwischen dem 1. August 1980 und dem 1. Juli 1990 ist bis zum 31. Juli 1984 nach der Richtlinie zur Auswahl, zur Delegierung, zum Einsatz und zur Tätigkeit der hauptberuflich tätigen Freundschaftspionierleiter vom 5. April 1976 (Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung 1976, S. 23) – im folgenden: Richtlinie 76 – und ab dem 1. August 1984 nach der Richtlinie zur Tätigkeit der hauptamtlichen Freundschaftspionierleiter (Arbeitsrichtlinie) und Regelungen für die Leitungen der FDJ zur Auswahl, zur Delegierung und zum Einsatz der Freundschaftspionierleiter vom 17. April 1984 (Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung 1984, S. 77) – im folgenden: Richtlinie 84 – zu beurteilen. Aus beiden Richtlinien ergibt sich, daß der Klägerin die Tätigkeit einer Freundschaftspionierleiterin aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden war.
In der Präambel der Richtlinie 76 war das Berufsbild des Freundschaftspionierleiters beschrieben. Danach war er als hauptberuflicher Funktionär des sozialistischen Jugendverbandes und Pädagoge politischer Leiter der Pionierfreundschaft. Die Beschlüsse der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der FDJ waren von ihm verantwortungsbewußt umzusetzen. Auch nach der Richtlinie 84 war der Freundschaftspionierleiter hauptamtlicher Funktionär der FDJ und politischer Leiter der Pionierfreundschaft (Abschnitt I Nr. 1 Richtlinie 84). Er war nach Abschnitt I Nr. 2.1. Richtlinie 84 beauftragt, die Pionierfreundschaft auf der Grundlage der Beschlüsse der SED und der FDJ in Übereinstimmung mit den Bildungs- und Erziehungsaufgaben der Schule politisch-pädagogisch zu führen. Der Freundschaftspionierleiter stützte sich in seiner Tätigkeit auf die Kraft der Schulparteiorganisation der SED und legte vor ihr Rechenschaft über die Erfüllung seiner Aufgaben ab (Abschnitt I Nr. 2.2. Richtlinie 84). Die grundlegende Aufgabe des Freundschaftspionierleiters war es, „den Jungen Pionieren die Politik der SED, die Weltanschauung und Moral der Arbeiterklasse zu vermitteln und sie aktiv in den Kampf des werktätigen Volkes für die Stärkung und den Schutz des sozialistischen Vaterlandes, der Deutschen Demokratischen Republik, einzubeziehen” (Abschnitt I Nr. 3 Richtlinie 84). Bereits aus dieser Stellung und Aufgabenbeschreibung des Freundschaftspionierleiters, wie auch aus seiner Berufung durch das Sekretariat der Kreisleitung der FDJ (vgl. Nr. 4 Richtlinie 76 und Abschnitt I Nr. 4.1. Richtlinie 84), ergibt sich, daß die Übertragung der Tätigkeit eines Freundschaftspionierleiters eine besondere persönliche Systemnähe voraussetzte.
Aber auch aus Nr. 4 Satz 2 Buchstabe c Doppelbuchstabe aa Übergangsvorschrift § 19 BAT-O läßt sich schließen, daß die Tätigkeit des Freundschaftspionierleiters zu den Tätigkeiten gehörte, die aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden waren. Nach dieser Bestimmung wird vermutet, daß die Übertragung einer Tätigkeit aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe erfolgte, wenn der Angestellte vor oder bei ihrer Übertragung eine hauptamtliche oder hervorgehobene ehrenamtliche Funktion in der SED, dem FDGB, der FDJ oder einer vergleichbar systemunterstützenden Partei oder Organisation innehatte. Ginge es um eine andere der Klägerin übertragene Tätigkeit, würde somit die hauptamtliche Funktion in der FDJ, die die Klägerin als Freundschaftspionierleiterin vor oder bei Übertragung jener Tätigkeit innehatte, zu Lasten der Klägerin die Vermutung der Nr. 4 Satz 2 Buchstabe c Doppelbuchstabe aa Übergangsvorschrift § 19 BAT-O begründen. Daraus folgt, daß nach dem Willen der Tarifparteien in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich die Frage stellt, ob die Ausübung der Funktion selbst von der Berücksichtigung als Beschäftigungszeit ausgeschlossen ist, eine hauptamtliche FDJ-Funktion und damit die Freundschaftspionierleitertätigkeit im Sinne der Nr. 4 Satz 1 Buchstabe c Übergangsvorschrift § 19 BAT-O als aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen anzusehen ist. Auf die vom Berufungsgericht verneinte Frage, ob die Klägerin die Vermutung widerlegt hat, daß ihr die Tätigkeit der Freundschaftspionierleiterin aufgrund besonderer persönlicher Systemnähe übertragen wurde (Nr. 4 Satz 3 Übergangsvorschrift § 19 BAT-O), kommt es somit nicht an. Diese Widerlegungsmöglichkeit, zu der die Klägerin im übrigen nichts vorgetragen hat, bestünde im vorliegenden Fall nicht.
2. Unerheblich ist bei dieser Sachlage, daß die Klägerin auch Pädagogin war und insofern eine Doppel Stellung innehatte.
Zu Unrecht weist die Klägerin auf die Verordnung über die Pflichten und Rechte der Lehrkräfte und Erzieher der Volksbildung und Berufsbildung – Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte – vom 29. November 1979 (GBl. I, 444) hin. Nach ihrem § 1 Buchst. a gilt diese Verordnung auch für Freundschaftspionierleiter, die dort als Pädagogen bezeichnet sind, die sie auch waren (vgl. auch BAG Urteil vom 4. Dezember 1993 – 8 AZR 127/93 – AP Nr. 18 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Dadurch entfällt aber nicht die Bewertung der Stellung des Freundschaftspionierleiters als hauptberuflicher oder hauptamtlicher Funktionär der FDJ mit dem Arbeitsplatz Schule (vgl. Nr. 6.1 Richtlinie 76 und Abschnitt I Nr. 2.1. Richtlinie 84) und die daraus folgende rechtliche Konsequenz nach der Übergangsvorschrift § 19 BAT-O.
Soweit die Klägerin geltend macht, nach § 6 Abs. 2 der Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen – Schulordnung – vom 29. November 1979 (GBl. I, 433) sei der Arbeitsplan der Schule die Grundlage gewesen für die einheitliche politische und pädagogische Tätigkeit aller Lehrer und Erzieher und für die Zusammenarbeit des Direktors mit der Grundorganisation der Freien Deutschen Jugend und der Pionierfreundschaft der Pionierorganisation „Ernst Thälmann”, dem Elternbeirat, den Betrieben und den gesellschaftlichen Kräften im Wohngebiet, verkennt sie, daß dies der Stellung, die der Freundschaftspionierleiter als Funktionär der FDJ sowohl nach der Richtlinie 76 wie auch nach der Richtlinie 84 innehatte, nicht entgegenstand.
3. Da somit die Zeit der Tätigkeit der Klägerin als Freundschaftspionierleiterin nach Nr. 4 der Übergangsvorschrift § 19 BAT-O bereits aus den vorstehenden Gründen von der Berücksichtigung als Beschäftigungszeit ausgeschlossen ist, bedarf es keiner Entscheidung zu der Frage, ob diese Zeit die übrigen Anrechnungsvoraussetzungen nach § 19 BAT-O, Übergangsvorschrift § 19 BAT-O erfüllen würde.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Hauck, D. Knauß, Gebert
Fundstellen