Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
Nach § 10 Ziff. 1 i.V.m. § 6 Ziff. 1 des gemeinsamen Manteltarifvertrags für alle Arbeitnehmer in den Betrieben der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie Klempnerei und Kupferschmiede Niedersachsen vom 3. September 1993 hat ein Arbeitnehmer bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 %.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1, 4 n.F.; Gemeinsamer MTV für alle Arbeitnehmer in den Betrieben der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie Klempnerei und Kupferschmiede Niedersachsen vom 3. September 1993 § 10 Ziff. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 1. Dezember 1997 - 5 Sa 1424/97 - aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Stade vom 17. Juni 1997 - 1 Ca 204/97 - wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist bei der Beklagten als gewerblicher Arbeitnehmer beschäftigt. Er erhält einen Stundenlohn von 23,06 DM brutto.
Der Kläger war vom 27. November bis 13. Dezember 1996 und vom 24. bis 28. Februar 1997 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete für diese Zeiträume Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines Lohnes. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller – rechnerisch unstreitiger – Höhe.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beidseitiger Tarifbindung der Gemeinsame Manteltarifvertrag für alle Arbeitnehmer in den Betrieben der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie Klempnerei und Kupferschmiede Niedersachsen vom 3. September 1993 (MTV) Anwendung. Er enthält in § 10 Regelungen über die „Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall”. Sie lauten auszugsweise wie folgt:
„1. Für gewerbliche Arbeitnehmer, die einen Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 und/oder § 7 des Lohnfortzahlungsgesetzes haben, berechnet sich die Lohnfortzahlung gem. § 2 Ziffer 3 des Lohnfortzahlungsgesetzes wie folgt:
a) Die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgeltes richtet sich für Zeitlohnarbeiter nach § 6 Ziffer 1 a).
b) Bei regelmäßiger Arbeitszeit ist für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die Stundenzahl zugrunde zu legen, die der Arbeitnehmer bei Arbeitsfähigkeit hätte arbeiten müssen.
Im Falle der Arbeitszeitmodelle 1 c) und 1 d) sind
ab 01.01.1994 |
7,3 |
Stunden |
ab 01.01.1998 |
7,3 |
Stunden |
ab 01.07.1998 |
7,2 |
Stunden |
täglich zu vergüten.
…
d) Liegt keine dieser Berechnungsgrundlagen für den erkrankten Arbeitnehmer vor, so ist der Verdienst eines vergleichbaren Arbeitnehmers als Maßstab heranzuziehen.
…”
Der in Bezug genommene § 6 MTV hat die Überschrift „Berechnungsgrundlage für Durchschnittsverdienste”. Seine Ziffer 1 lautet:
„In Fällen, in denen der Durchschnittsverdienst als Berechnungsgrundlage für die geleistete Arbeit berechnet werden muß, wird der Stundenverdienst wie folgt definiert:
- Effektiver Stundenverdienst ist der regelmäßige tatsächliche Arbeitsverdienst.
- Wird in Betrieben im Leistungslohn gearbeitet, gilt die Regelung gemäß Ziffer 2.
- …”
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, ihm stünden für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit 100 % seines Lohns zu. § 10 MTV stelle eine eigenständige tarifliche Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Sie sehe die ungekürzte Zahlung vor. Selbst wenn die Bestimmung nur deklaratorisch sein sollte, so handele es sich jedenfalls nicht um eine dynamische Verweisung.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 636,46 DM brutto nebst 4 % Prozeßzinsen zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 10 MTV regele nur die Berechnungsgrundlage, nicht die Höhe der Entgeltfortzahlung.
Das Arbeitsgericht hat die Klage im Umfang von 170,66 DM als Differenzbetrag für die Fehlzeiten des Klägers im Februar 1997 durch Teilurteil abgewiesen. Für die Arbeitsunfähigkeit im November und Dezember 1996 war zwischen den Parteien streitig, ob sie auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen war. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 170,66 DM stattgegeben. Mit ihrer Revision bittet die Beklagte um Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg.
Die Klage, soweit die Vorinstanzen über sie entschieden haben, ist nicht begründet. Die Höhe der dem Kläger für Februar 1997 zustehenden Entgeltfortzahlung bestimmt sich nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in seiner seit dem 1. Oktober 1996 geltenden Fassung. Aus § 10 Ziff. 1 MTV folgt nichts anderes. Die Bestimmung stellt keine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung dar. Den dem Kläger gesetzlich zustehenden Anspruch auf Lohnfortzahlung hat die Beklagte unstreitig erfüllt. Die dem Teilurteil des Arbeitsgerichts zugrunde liegende Klageforderung besteht nicht.
I. Vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 gab es für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Für Arbeiter galt das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)” vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestelle hatten nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I, S. 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG „80 v.H. des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”.
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (vgl. BT-Drucks. 13/4612; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179/80).
II. Der Kläger erblickt die Grundlage für seinen Anspruch in § 10 Ziff. 1 MTV. Dort hätten die Tarifvertragsparteien von der Tariföffnungsklausel des § 2 Abs. 3 LFZG Gebrauch gemacht und durch den Verweis auf § 6 Ziff. 1 a) MTV die Berechnung der Entgeltfortzahlung im einzelnen geregelt. Das Ergebnis dieser Berechnung multipliziert mit der in den § 10 Ziff. 1 b) MTV vorgesehenen Stundenzahl führe zur tariflich geschuldeten Vergütungshöhe. Der Eingangssatz des § 10 Ziff. 1 MTV stelle auch nicht etwa eine umfassende dynamische Verweisung auf die gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung dar.
Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, aus dem Umstand, daß die Tarifvertragsparteien den Text des § 10 Ziff. 1 MTV nach Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes der neuen gesetzlichen Lage nicht angepaßt hätten, müsse geschlossen werden, daß sie den Grundsatz der vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für selbstverständlich gehalten hätten. Der Hinweis in § 10 Ziff. 1 MTV sei daher als Hinweis auf die Geschäftsgrundlage des Tarifvertrages zu verstehen. Dies gelte umso mehr, als nicht angenommen werden könne, die Gewerkschaften hätten das Prinzip der vollen Lohnfortzahlung zur Disposition stellen wollen.
Beiden Auffassungen kann nicht gefolgt werden.
1. Nach § 10 Ziff. 1 MTV wird „für gewerbliche Arbeitnehmer, die einen Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 und/oder § 7 des Lohnfortzahlungsgesetzes haben”, die Lohnfortzahlung in bestimmter Weise berechnet. Dem Kläger ist darin zu folgen, daß der Klageanspruch nicht schon deshalb verneint werden kann, weil mit dieser tariflichen Bestimmung für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle in umfassender Weise und dynamisch auf die Vorschriften des Lohnfortzahlungsgesetzes verwiesen worden wäre. Dies ergibt die Auslegung der Bestimmung.
a) Die Regelung des § 10 Ziff. 1 MTV richtet sich nicht an die Tarifvertragsparteien selbst, sondern an die Tarifunterworfenen. Ihre Auslegung betrifft deshalb den normativen Bereich des Tarifvertrages. Dessen Auslegung richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung (BAG in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteil vom 21. August 1997 - 5 AZR 517/96 - NZA 1998, 211, m.w.N.; Urteil vom 1. Juli 1998 - 5 AZR 545/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Daß deren Anwendung voraussetze, es müsse die Normqualität der auszulegenden tariflichen Bestimmung bereits feststehen (so Menssen, AuR 1989, 234), ist nicht zutreffend. Es geht darum, wie Dritte – die Tarifunterworfenen und die Gerichte – die Tarifbestimmung zu verstehen haben. Die Frage nach ihrem Inhalt und die Frage danach, ob es sich um eine Norm oder um einen bloßen Hinweis handelt, lassen sich nicht trennen. Beide sind nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung zu beantworten (zutreffend Kamanabrou, RdA 1997, 22, 23).
b) Nach seinem Wortlaut handelt es sich bei dem Eingangssatz in § 10 Ziff. 1 MTV nicht um eine Verweisung im eigentlichen Sinne. Die tarifliche Bestimmung knüpft an die gesetzlichen Vorschriften der §§ 1, 7 LFZG vielmehr nur an. Sie setzt das Bestehen des gesetzlichen Anspruchs auf Lohnfortzahlung bereits voraus und enthält nur Vorschriften zu seiner Berechnung. Sie trifft weder eine eigenständige Regelung über den Anspruch als solchen noch stellt sie eine Verweisung auf das Gesetz dar.
Daran hat sich mit dem Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes nichts geändert. Es gelten für die Entstehung eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung weiterhin nur die (jeweiligen) gesetzlichen Vorschriften, eine umfassende Verweisung auf das Gesetz ist weiterhin nicht gegeben.
2. Zutreffend nimmt der Kläger ferner an, daß § 10 Ziff. 1 MTV insoweit eine eigenständige (konstitutive) Regelung darstelle, als die Vorschrift Regelungen über die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts enthalte.
a) Mit der Formulierung, die Lohnfortzahlung berechne sich „gem. § 2 Ziff. 3 des Lohnfortzahlungsgesetzes”, geben die Tarifvertragsparteien zu erkennen, daß sie in Wahrnehmung der durch § 2 Abs. 3 Satz 1 LFZG eröffneten Möglichkeit eine vom Gesetz unabhängige Berechnungsvorschrift schaffen wollten. Dies gilt auch dann, wenn sich die eigenen Regelungen inhaltlich nur wenig von den gesetzlichen unterscheiden.
b) Der Eigenständigkeit der Berechnungsregelungen steht nicht entgegen, daß § 2 LFZG am 31. Mai 1994 außer Kraft getreten ist. Konstitutive Vorschriften verlieren ihre Wirksamkeit und ihren konstitutiven Charakter nicht allein dadurch, daß die bisherige gesetzliche Regelung, die sie modifiziert haben, durch eine andere ersetzt wird. Falls auch das neue Gesetz eine entsprechende Abweichung zuläßt, gelten sie ohne weiteres fort. Eine Weitergeltung von § 10 Ziff. 1 MTV wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß dort das „Lohnfortzahlungsgesetz” ausdrücklich erwähnt wird. Aus diesem Umstand folgt nicht, daß die Tarifvertragsparteien die gesetzlichen Berechnungsvorschriften lediglich unter Geltung des Lohnfortzahlungsgesetzes durch die von ihnen getroffenen Regelungen hätten ersetzen wollen und nicht auch unter Geltung einer inhaltlich gleichen Nachfolgeregelung. Weil § 10 Ziff. 1 MTV eine Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz gerade nicht enthält, gibt es dafür keinen Anhaltspunkt.
c) Auch § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG läßt es zu, „durch Tarifverträge … eine von den Abs. 1, 1 a) und 3 abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts” festzulegen. Diese Tariföffnungsklausel gilt gem. Art. 67 Abs. 2 PflegeVG vom 26. Mai 1994 (BGBl. I, S. 1014) auch für Tarifverträge, die schon vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 und dem Wirksamwerden seiner Änderungen zum 1. Oktober 1996 abgeschlossen worden sind. Zur „Bemessungsgrundlage” im Sinne des § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG gehören sowohl die Berechnungsmethode (Entgeltausfall- oder Referenzprinzip) als auch die Berechnungsgrundlage (Umfang und Bestandteile des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts). § 10 Ziff. 1 MTV enthält keine Regelungen, die davon nicht gedeckt sind. Die Vorschrift ist darum auf das Arbeitsverhältnis der Parteien weiterhin anzuwenden.
3. Gleichwohl ist die Klageforderung nicht begründet. In § 10 Ziff. 1 MTV haben die Tarifvertragsparteien eine selbständige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung nicht getroffen.
a) Nach § 10 Ziff. 1 a) MTV richtet sich die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts bei Zeitlohnarbeitern – zu denen der Kläger gehört – nach § 6 Ziff. 1 a) MTV. Dieser Regelung zufolge entspricht in den Fällen, in denen es auf den Durchschnittsverdienst als Berechnungsgrundlage ankommt, der effektive Stundenverdienst dem regelmäßigen tatsächlichen Arbeitsverdienst. Durchschnittlicher Stundenverdienst für Leistungslohnarbeit ist gemäß § 6 Ziff. 2 MTV der Durchschnittsstundenverdienst des letzten Abrechnungsjahres. Für dessen Berechnung werden Akkordüberschüsse mit Akkordunterschüssen des Vorjahres verrechnet. Gemäß § 10 Ziff. 1 b) MTV ist sodann bei regelmäßiger Arbeitszeit für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die Stundenzahl zugrunde zu legen, die der Arbeitnehmer bei Arbeitsfähigkeit hätte arbeiten müssen. Die Tarifvertragsparteien haben es damit für Zeitlohnarbeiter mit regelmäßiger Arbeitszeit bei dem gesetzlich vorgesehenen Entgeltausfallprinzip belassen. Selbständig geregelt haben sie dagegen, daß bei regelmäßiger Arbeitszeit für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die tatsächliche Stundenzahl zugrunde zu legen ist, die der Arbeitnehmer ansonsten hätte arbeiten müssen, und z.B. nicht ein Durchschnittswert. Geregelt haben sie mit dem Verweis auf § 6 Ziff. 1 a) MTV ferner, daß das fortzuzahlende Arbeitsentgelt sich nach dem tatsächlichen stündlichen Arbeitsverdienst richtet und ebenfalls nicht etwa nach bestimmten Durchschnittswerten.
b) Auf diese Weise sind lediglich die Berechnungsgrundlagen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zum eigenständigen Inhalt der Tarifvorschriften geworden. Nach dem Wortlaut von § 10 Ziff. 1 a) MTV richtet sich „die Berechnung” des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts nach § 6 Ziff. 1 a) MTV. Diese Regelung wiederum trägt die Überschrift „Berechnungsgrundlage für Durchschnittsverdienste” und spricht in ihrer Ziff. 1 noch einmal vom „Durchschnittsverdienst als Berechnungsgrundlage für die geleistete Arbeit”. Ferner heißt es in § 10 Ziff. 1 b) MTV, es sei für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die betreffende Stundenzahl „zugrunde zu legen” bzw. es sei – bei besonderen Arbeitszeitmodellen – eine bestimmte Stundenanzahl „täglich zu vergüten”. § 10 Ziff. 1 d) MTV schließlich sieht vor, daß „als Maßstab” der Verdienst eines vergleichbaren Arbeitnehmers heranzuziehen sei, wenn keine „dieser Berechnungsgrundlagen” für den erkrankten Arbeitnehmer vorliege.
Die Formulierungen machen deutlich, daß die Tarifvertragsparteien die Öffnungsklausel des § 2 Abs. 3 LFZG bzw. des § 4 Abs. 4 EFZG zwar dazu genutzt haben, die Grundlagen für die Berechnung der Entgeltfortzahlung zum Teil anders als das Gesetz festzuschreiben, daß sie aber eine eigenständige Regelung über deren tatsächliche Höhe nicht getroffen haben. Ihnen fehlt jeder Hinweis darauf, daß sie die endgültige Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts unabhängig von der gesetzlichen Regelung hätten bestimmen wollen. Dies gilt auch angesichts der Formulierung in § 10 Ziff. 1 b), daß im Falle besonderer Arbeitszeitmodelle eine bestimmte Stundenanzahl „täglich zu vergüten” sei. Dieser Ausdruck ist an die Stelle der Formulierung „für jeden Tag zugrunde zu legen” im vorhergehenden Satz der tariflichen Vorschrift getreten. Dieser Zusammenhang und die zusammenfassende Bezeichnung aller vorangegangenen Regelungen als „Berechnungsgrundlagen” in § 10 Ziff. 1 d) MTV macht deutlich, daß auch für Arbeitnehmer, deren wöchentliche Arbeitszeit sich nach § 2 Ziff. 1 c) oder § 2 Ziff. 1 d) MTV richtet, eine eigenständige tarifliche Regelung über die Höhe der Lohnfortzahlung nicht getroffen wurde. Dazu bestand zur Zeit des Tarifabschlusses auch keine Notwendigkeit, da die gesetzlichen Vorschriften ohnehin die volle Entgeltfortzahlung vorsahen. Dieser Umstand schließt es zwar nicht aus, daß Tarifvertragsparteien schon vor Inkrafttreten des § 4 Abs. 1 EFZG n.F. am 1. Oktober 1996 Regelungen getroffen haben, die – gleichsam unnötigerweise – auch die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regeln. Es bedarf dafür jedoch deutlicher Anhaltspunkte auch im Wortlaut der Regelungen. So sehen bestimmte Tarifverträge vor, daß der Arbeitnehmer für jeden Krankheitstag, für den er Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts hat, 1/65 des vorausgehenden Vierteljahresverdienstes erhält oder ihm 1/22 des monatlichen Effektivverdienstes zu zahlen ist (vgl. BAG Urteile vom 26. August 1998 - 5 AZR 740/97 - und 16. Juni 1998 - 5 AZR 728/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Durch solche Regelungen ist die Höhe der Entgeltfortzahlung präzise festgelegt.
Dies ist hier nicht der Fall. § 10 Ziff. 1 MTV trifft Bestimmungen über die Berechnung des Arbeitsentgelts und die maßgebende regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 LFZG bzw. § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG, hat die eigentliche Höhe der Entgeltfortzahlung aber nicht eigenständig und unabhängig von der jeweiligen Gesetzeslage festgelegt. Diese richtet sich nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner derzeit geltenden Fassung und beträgt nur 80 % des ermittelten Entgelts.
c) Etwas anderes folgt auch nicht aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang. Zwar sieht § 9 MTV für den Fall der Arbeitsverhinderung durch Aufsuchen eines Arztes in dringenden Fällen während der Arbeitszeit die „Bezahlung des Dienstausfalls” und damit die Weiterzahlung des Lohns in voller Höhe vor. Daraus folgt aber nicht, daß die Tarifvertragsparteien auch die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eigenständig geregelt haben. Auch der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. § 616 BGB – vormals § 616 Abs. 1 BGB – ist unverändert geblieben, so daß bei vorübergehender Dienstverhinderung das Entgelt in voller Höhe weiter zu zahlen ist, falls nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden (vgl. § 619 BGB). Das ist hinzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für beide Fälle zu schaffen. Sie haben dies mit Wirkung vom 1. Oktober 1997 im übrigen getan. Der MTV vom 23. September 1997 sieht in § 10 nunmehr „unabhängig von der jeweils geltenden gesetzlichen Regelung vom ersten Tag ab bis zur Dauer von sechs Wochen (einen) Anspruch auf ungekürzte Entgeltfortzahlung” im Krankheitsfall vor.
Weitere aus dem Tarifvertrag vom 3. September 1993 selbst ableitbare Anhaltspunkte für eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung gibt es nicht.
4. Das Landesarbeitsgericht hat aus dem Umstand, daß der Text des § 10 Ziff. 1 MTV nach Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes der neuen gesetzlichen Lage nicht angepaßt worden ist, den Schluß gezogen, die Tarifvertragsparteien hätten den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung „für selbstverständlich” gehalten. Der Hinweis auf § 1 und § 7 LFZG sei darum als Hinweis auf die Geschäftsgrundlage des Tarifvertrages zu verstehen. Dies mag sein. Aus der Enttäuschung bloßer Erwartungen der Tarifvertragsparteien über das Fortbestehen einer bestimmten gesetzlichen Lage und aus dem möglichen Wegfall der Geschäftsgrundlage eines Tarifvertrages folgt jedoch nichts für das zutreffende Verständnis der tatsächlich getroffenen tariflichen Regelung.
Das Landesarbeitsgericht hat weiter ausgeführt, es könne nicht angenommen werden, die Gewerkschaften hätten das Prinzip der vollen Lohnfortzahlung zur Disposition des Gesetzgebers stellen wollen. Auch daraus folgt nichts für die Auslegung des § 10 Ziff. 1 MTV. Die insoweit erhebliche Frage ist nicht, ob die Tarifvertragsparteien diese Regelung auch dann getroffen hätten, wenn sie vorausgesehen hätten, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung gesetzlich auf 80 % herabgesetzt würde. Für die Auslegung bedeutsam ist nur die Frage, ob sie bei Tarifabschluß im Jahr 1993 eine der festgestellten sprachlichen Bedeutung des § 10 Ziff. 1 MTV widersprechende Regelungsabsicht gehabt haben und in Wirklichkeit auch die Höhe der Entgeltfortzahlung gesetzesunabhängig festlegen wollten. Für ein solches Auseinanderfallen von Regelungsinhalt und damaliger Regelungsabsicht gibt es weder Anhaltspunkte innerhalb des Tarifvertrages noch sprechen dafür sonstige Umstände.
Unterschriften
Reinecke, Kreft, Bepler, Schwefeß, W. Hinrichs
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 21.10.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436163 |
BB 1999, 270 |
DB 1999, 747 |
ARST 1999, 94 |
FA 1998, 393 |
NZA 1999, 500 |
RdA 1999, 293 |
SAE 1999, 208 |
ZAP 1998, 1137 |
AP, 0 |