Leitsatz (amtlich)

Vergleiche über die tatsächlichen Voraussetzungen des Lohnfortzahlungsanspruchs sind zulässig.

 

Normenkette

Lohnfortzahlungsgesetz § 9

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 26.04.1972; Aktenzeichen 5 Sa 109/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 26. April 1972 – 5 Sa 109/72 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger war vom 9. Juni bis zum 30. Juli 1971 als Bauhilfsarbeiter bei der Beklagten beschäftigt. Am Montag, dem 28. Juni 1971, meldete er sich durch seine Ehefrau krank. Für die Zeit vom 28. Juni bis zum 9. Juli 1971 bescheinigte ihm der Arzt Dr. H… in M… Arbeitsunfähigkeit. In der Zeit vom 12. bis zum 23. Juli 1971 waren bei der Beklagten Betriebsferien. Am 26. Juli 1971 nahm der Kläger die Arbeit bei der Beklagten wieder auf und arbeitete danach noch bis zum 30. Juli 1971. Am 16. August 1971 holte er die Arbeitspapiere bei der Beklagten ab und unterzeichnete dabei die nachstehende, auf der Personalkarte vorgedruckte schriftliche Erklärung:

“Mit meinem Austritt bin ich einverstanden. Ich habe die obigen Arbeitspapiere erhalten und erkläre ausdrücklich, daß aus dem Arbeitsverhältnis und dessen Beendigung, gleich aus welchem Rechtsgrunde, keinerlei Ansprüche mehr an die Firma bestehen.”

Mit der Klage fordert der Kläger für die Krankheitszeit vom 28. Juni bis zum 9. Juli 1971 Lohnfortzahlung in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 568,10 DM. Er hat einen dementsprechenden Klageantrag gestellt.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Arbeitsunfähigkeit des Klägers unter Hinweis auf dessen Neigung zum Trunk bestritten. Bereits am 25. Juni 1971 sei der Kläger wegen Trunkenheit mit dem Hinweis verwarnt worden, er werde bei der “nächsten Kleinigkeit” entlassen. In der Zeit der angeblichen Arbeitsunfähigkeit habe er in einer Gastwirtschaft ebenfalls sehr viel getrunken. Aus diesen Gründen habe sie die Lohnfortzahlung verweigert. In Kenntnis dieses Sachverhalts habe der Kläger die Erklärung vom 16. August 1971 unterschrieben.

Die Beklagte hält der Klage weiter den Anspruchsverzicht in der Ausgleichsquittung vom 16. August 1971 entgegen.

Der Kläger hat den Vortrag der Beklagten bestritten. Er hält ferner den Verzicht in der Ausgleichsquittung für rechtsunwirksam. Nach seiner Ansicht müßten Ausgleichsquittungen mit Verzichtsinhalt in einer gesonderten Urkunde, nicht aber in einer zahlreiche andere Punkte umfassenden Gesamterklärung enthalten sein. Er hat ferner den Verzicht wegen Irrtums und arglistiger Täuschung angefochten.

Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat zunächst festgestellt, daß der Kläger in der Tat während des Anspruchszeitraums arbeitsunfähig gewesen ist. Die Ausgleichsquittung ist nach der Ansicht des Landesarbeitsgerichts unwirksam, und zwar nicht deshalb, weil sie Teil einer Gesamterklärung sei, sondern deshalb, weil nach § 9 LohnFG der Verzicht auf Lohnfortzahlungsansprüche überhaupt unwirksam sei. Dies gilt nach der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht nur für künftig entstehende, sondern auch für bereits entstandene Lohnfortzahlungsansprüche.

Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

1. Keine Angriffe richtet die Revision gegen die tatrichterliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit während des Anspruchszeitraums. Von diesem Sachverhalt ist daher in der Revisionsinstanz auszugehen.

2. Nicht zu beanstanden ist die Rechtsansicht des Landesarbeitsgerichts, die Ausgleichsquittung sei nicht wegen Formmangels nichtig. Das Bundesarbeitsgericht hat bisher in ständiger Rechtsprechung Ausgleichsquittungen, die in Form einer Gesamterklärung abgefaßt sind und sachlich ebenso lauten wie die hier zu beurteilende, als rechtswirksam angesehen; der Zweite Senat (AP Nr. 36 zu § 3 KSchG) erblickt darin sogar den rechtswirksam erklärten Verzicht auf die Geltendmachung der Sozialwidrigkeit der Kündigung. Ausgleichsquittungen, die mehrere Fragen in Gestalt einer Gesamterklärung regeln, haben sich auf Grund dieser Rechtsprechung im Arbeitsleben eingebürgert. Es würde einen Bruch mit einer längeren Entwicklung bedeuten, wenn man das in dieser Praxis zutage tretende allgemeine Rechtsbewußtsein beiseite schieben wollte. Jeder Arbeitnehmer hat genügend Möglichkeiten, sich über den Inhalt und die Bedeutung aller in der Ausgleichsquittung zusammengefaßten Erklärungen das richtige Bild zu verschaffen; die Gefahr eines allgemeinen Mißbrauchs der Vertragsfreiheit in der Praxis ist bisher auch nicht bekannt geworden.

3. Unrichtig ist jedoch der Standpunkt des Landesarbeitsgerichts, der in der Ausgleichsquittung enthaltene Verzicht auf den Lohnfortzahlungsanspruch sei mit § 9 LohnFG nicht zu vereinbaren und sei daher rechtsunwirksam. Dabei hat das Landesarbeitsgericht übersehen, daß der Verzicht nicht einen hinsichtlich seiner tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen außer Streit stehenden Anspruch betraf, sondern einen solchen Anspruch, der in jeder Hinsicht streitig war. Streitig war die tatsächliche Grundlage des Anspruchs, nämlich das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit, sowie in rechtlicher Hinsicht die Frage, ob der Anspruch dem Einwand des Rechtsmißbrauchs ausgesetzt war. Im Zeitpunkt des Verzichtsvertrages war das Bestehen des Anspruchs also aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen ungewiß.

Zwischen den Parteien ist daher kein Rechtsvergleich, sondern ein sog. Tatsachenvergleich abgeschlossen worden, der im Interesse des Rechtsfriedens die Ungewißheit über das Bestehen des Anspruchs beseitigt hat und damit einem künftigen Rechtsstreit hierüber vorbeugen sollte. Ein Vergleich dieser Art, in dem im Hinblick auf ungewisse, möglicherweise schwer beweisbare Tatfragen ein vereinbarter Tatbestand zugrunde gelegt wird, kann an § 9 LohnFG nicht scheitern. Das wäre unvereinbar mit der rechtlichen Struktur des Lohnfortzahlungsanspruchs. Dieser Anspruch ist nämlich, wie der Erste Senat am 26. Oktober 1971 – 1 AZR 40/71 – entschieden hat (AP Nr. 1 zu § 6 LohnFG, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen), nichts anderes als der aufrechterhaltene Lohnanspruch und teilt in jeder Hinsicht dessen rechtliches Schicksal; er folgt allen rechtlichen Regeln des sonstigen Lohnanspruchs. Eine vergleichsweise Regelung über die tatsächlichen Voraussetzungen des Lohnfortzahlungsanspruchs muß daher ebenso zulässig sein wie dies beim normalen Lohnanspruch anerkannt ist. Schutzwürdige Belange des Arbeiters durch die vorgenannte rechtliche Beurteilung werden nicht berührt. Der Arbeiter verliert nichts, was er sicher hat; er nimmt vielmehr teil an dem Erfolg jeder Ausgleichsquittung, nämlich den Rechtsfrieden zu sichern.

Tatsachenvergleiche werden auch im Rahmen des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG für zulässig gehalten, also dort, wo ein Vergleich von der Zustimmung der Tarifvertragsparteien abhängig ist (vgl. Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, II. Bd., 1. Halbband, S. 622 f. mit Nachweisen aus der Literatur; ferner Dersch-Neumann, BUrlG, 4. Aufl., § 13 Anm. 78; so auch der Senat in AP Nr. 7 zu § 11 BUrlG im Hinblick auf die Verwirkung von streitigen Urlaubsansprüchen). Um so weniger können Bedenken gegen die vorstehende Auffassung für den Bereich des § 9 LohnFG geltend gemacht werden, einer Vorschrift, die den Anspruchsverzicht nicht ausdrücklich ausschließt, sondern nur allgemein das Abweichen von den zwingenden Vorschriften des Gesetzes untersagt. Zwingende Grundsätze des Lohnfortzahlungsgesetzes werden nicht aufgegeben, wenn Tatsachenvergleiche zugelassen werden.

Wird der Sachverhalt aus der vorstehenden rechtlichen Sicht beurteilt, so bedarf es auch im vorliegenden Falle keiner Stellungnahme zu der Grundsatzfrage, ob § 9 LohnFG allgemein den Verzicht auf bereits entstandene Lohnfortzahlungsansprüche ausschließt.

Danach ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

4. Der Rechtsstreit ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, denn das Landesarbeitsgericht hat, von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht, nicht zu der Frage der Anfechtung der Ausgleichsquittung Stellung genommen. Dies muß in der Tatsacheninstanz nachgeholt werden.

 

Unterschriften

Dr. Schröder, Bichler, Siara, E. Schäfer, Dr. Hirt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1767491

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