Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung übertariflicher Zulage auf Tariferhöhung
Leitsatz (redaktionell)
Nicht entscheidungserhebliche Divergenz zum Urteil des Vierten Senats vom 3. Juni 1987 – 4 AZR 44/87 – BAGE 55, 322 = AP Nr. 58 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie.
Normenkette
BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 10
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. März 1996 – 14 Sa 1181/95 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte eine Tariflohnerhöhung wirksam auf eine übertarifliche Zulage des Klägers angerechnet hat.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Arbeiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit die Tarifverträge für die Polstermöbel- und Matratzenindustrie in Nordrhein-Westfalen Anwendung. Bis zum 31. März 1994 betrug die regelmäßige Wochenarbeitszeit nach dem Manteltarifvertrag 37 Stunden. Zum 1. April 1994 wurde sie bei vollem Lohnausgleich auf 36 Stunden verkürzt.
Der in Gruppe 3 des Lohntarifvertrages eingruppierte Kläger erhielt bis zum 31. März 1994 einen tariflichen Stundenlohn in Höhe von 16,32 DM und zusätzlich eine übertarifliche Zulage in Höhe von 3,87 DM, effektiv also 20,19 DM brutto. Die Beklagte gewährt auch anderen Arbeitnehmern übertarifliche Zulagen in unterschiedlicher Höhe, so den ebenfalls in der Tarifgruppe 3 eingruppierten Arbeitern G. und P. G. erhielt bis zum 31. März 1994 einen effektiven Brutto-Stundenlohn von 20,48 DM (davon 4,16 DM übertariflich), P. von 21,48 DM (davon 5,16 DM übertariflich).
Ebenfalls zum 1. April 1994 wurde der tarifliche Stundenlohn um 2 % erhöht. Die vom 1. April 1994 an gültige tarifliche Lohntafel, in welche neben dieser Tariferhöhung auch der Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung in Höhe von rund 2,8 % eingearbeitet war, wies für Arbeiter der Gruppe 3 einen Stundenlohn von 17,11 DM aus.
Die Beklagte zahlte dem Kläger vom 1. April 1994 an einen auf 20,75 DM brutto pro Stunde erhöhten Effektivlohn, also eine übertarifliche Zulage von 3,64 DM auf den neuen Tariflohn. Den neuen Effektivlohn setzte sie in der Weise fest, daß sie den bisherigen Effektivlohn um den rechnerischen Gegenwert der Arbeitszeitverkürzung (2,8 %) erhöhte, im übrigen die zweiprozentige Erhöhung des Tariflohns aber nicht weitergab. Ebenso verfuhr sie bei den anderen Arbeitnehmern. Hieraus errechnete sich bei G. ein neuer Effektivlohn von 21,05 DM (davon 3,94 DM übertariflich) und bei P. von 22,08 DM (davon 4,97 DM übertariflich). Der Betriebsrat wurde nicht beteiligt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihm vom 1. April 1994 an einen Stundenlohn von 20,98 DM brutto geschuldet. Dieser errechne sich aus dem neuen Tariflohn von 17,11 DM und der bisherigen übertariflichen Zulage von 3,87 DM. Die Anrechnung der Zulage auf die Tariferhöhung sei unwirksam. Sie sei schon individualrechtlich ausgeschlossen gewesen, da die Zulage für seine Leistungen und seine Betriebstreue gewährt werde. Im übrigen habe die Beklagte bei der Anrechnung das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt. Dieser habe mitzubestimmen, weil das von der Beklagten vorgegebene Gesamtvolumen der Kürzungen auf die betroffenen Arbeitnehmer auch anders hätte verteilt werden können. Die Beklagte habe die Tariferhöhung nicht vollständig angerechnet, denn sie habe den tariflichen Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung in Höhe von 2,8 % an die Arbeitnehmer weitergegeben.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung des in seiner Höhe zwischen den Parteien unstreitigen Differenzbetrags von 0,23 DM brutto pro Stunde für den Monat April 1994 begehrt und beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 34,39 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 10. Mai 1994 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Meinung war die Anrechnung wirksam. Individualrechtliche Hindernisse hätten nicht bestanden, weil die Zulage weder von der Leistung des Klägers noch von seiner Betriebstreue abhängig gewesen sei. Die Anrechnung sei auch nicht mitbestimmungspflichtig gewesen. Die zweiprozentige Tariferhöhung sei bei allen Arbeitnehmern voll auf die Zulage angerechnet worden, so daß für eine anderweitige Verteilung des Kürzungsvolumens kein Spielraum bestanden habe. Der tarifliche Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung in Höhe von 2,8 % habe dabei außer Betracht zu bleiben, denn insoweit sei eine Anrechnung ausgeschlossen gewesen. Es habe sich hierbei nicht um eine Tariflohnerhöhung gehandelt, die auch ohne besondere Vereinbarung einer Anrechnung zugänglich gewesen wäre.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und dies im Anschluß an das erstinstanzliche Urteil damit begründet, daß die Beklagte den Lohnausgleich von 2,8 % an die Arbeitnehmer weitergegeben und damit die Tariferhöhung nicht vollständig angerechnet habe. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Im Ergebnis zutreffend haben die Vorinstanzen der Klage stattgegeben. Der Kläger hat für den streitbefangenen Zeitraum Anspruch auf Zahlung der übertariflichen Zulage in unverminderter Höhe. Die Anrechnung der Tariferhöhung auf die Zulage ist jedenfalls deshalb unwirksam, weil die Beklagte das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt hat. Dabei kann offenbleiben, ob die Zulage, wie der Kläger meint, anrechnungsfest ist.
I. Nach den vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bei der Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen dann, wenn sich durch die Anrechnung die bisherigen Verteilungsgrundsätze ändern. Das ist der Fall, wenn sich das Verhältnis der Zulagen zueinander verschiebt. Weiter ist das Mitbestimmungsrecht davon abhängig, daß für eine anderweitige Regelung der Anrechnung innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum verbleibt. Deshalb ist die Anrechnung mitbestimmungsfrei, wenn sie das Zulagenvolumen völlig aufzehrt. Das gleiche gilt, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertariflichen Zulagen angerechnet wird (BAGE 69, 134, 164 ff. = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu C III 4–6 der Gründe).
II. Danach hatte der Betriebsrat hier bei der Anrechnung mitzubestimmen.
1. Erfolglos hat sich die Beklagte darauf berufen, das Mitbestimmungsrecht sei schon deshalb ausgeschlossen, weil es um Lohnbestandteile gehe, Arbeitsentgelte nach § 77 Abs. 3 BetrVG aber nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein könnten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steht der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG einer Wahrnehmung der Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG nicht entgegen (grundlegend Großer Senat, BAGE 69, 134, 145 ff, = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu C I der Gründe).
2. Durch die Anrechnung haben sich die Verteilungsrelationen zwischen den übertariflichen Zulagen der einzelnen Arbeitnehmer geändert. Das ergibt schon die Gegenüberstellung der von den Arbeitnehmern der Lohngruppe 3 bezogenen Zulagen. Bis zum 31. März 1994 betrug die Zulage des Klägers 3,87 DM. Diejenigen seiner Kollegen G. und P. beliefen sich auf 4,16 DM und 5,16 DM, die Zulagen standen also rechnerisch im Verhältnis 1: 1,075: 1,333. Infolge der Anrechnung änderte sich das Verhältnis auf 1: 1,082: 1,365, denn die Zulagen wurden auf 3,64 DM beim Kläger, 3,94 DM bei G. und 4,97 DM bei P. reduziert.
3. Das Mitbestimmungsrecht war nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß die Beklagte die Erhöhung des Tariflohns vollständig angerechnet und damit keinen Spielraum für eine abweichende Verteilung des von ihr mitbestimmungsfrei vorgegebenen Anrechnungsvolumens auf die einzelnen Arbeitnehmer gelassen hätte. Die Beklagte hat ihre Anrechnungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft.
a) Soweit die Vorinstanzen das allerdings damit begründet haben, daß die Beklagte den Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung in Höhe von 2,8 % an die Arbeitnehmer weitergegeben hat, ist ihnen der Senat nicht gefolgt. Für eine Anrechnung des Lohnausgleichs fehlte der Beklagten die Regelungsbefugnis. Die Anrechnung war ihr individualrechtlich verwehrt.
Allerdings kann der Arbeitgeber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z.B. BAGE 71, 180, 185 f. = AP Nr. 55 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu I 1 der Gründe) übertarifliche Zulagen im Fall einer Tariferhöhung grundsätzlich auf den Tariflohn anrechnen, es sei denn, dem Arbeitnehmer wäre die Zulage als selbständiger Entgeltbestandteil neben dem jeweiligen Tarifentgelt zugesagt. Da hier für eine besondere Anrechnungsvereinbarung nichts vorgetragen ist, kann zugunsten der Beklagten allenfalls unterstellt werden, daß der übliche Anrechnungsvorbehalt konkludent vereinbart ist. Ein solcher stillschweigender Vorbehalt umfaßt aber nach der Rechtsprechung des Senats (zuletzt Urteil vom 7. Februar 1996 – 1 AZR 657/95 – AP Nr. 85 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu II 1 b der Gründe) nur die Erhöhung des insgesamt geschuldeten Tarifentgelts, nicht dagegen Zahlungen, durch die Entgeltminderungen infolge von Arbeitszeitverkürzungen vermieden werden sollen.
Jede Arbeitszeitverkürzung mit vollem oder teilweisem Entgeltausgleich führt, ebenso wie eine Verlängerung der Pausenzeiten, zu einem erhöhten Arbeitsentgelt pro Zeiteinheit. Dieser Ausgleichsbetrag wird nicht von einer Anrechnungsklausel erfaßt, die stillschweigend oder durch einen bloßen Freiwilligkeitsvorbehalt vereinbart wurde und sich generell auf Tariferhöhungen bezieht. Dies ergibt sich schon daraus, daß unter einer Tariferhöhung im allgemeinen Sprachgebrauch nur die Erhöhung des tariflich insgesamt geschuldeten Entgeltbetrags verstanden wird, nicht dagegen die bloße Steigerung des Werts der Arbeitsleistung pro Zeiteinheit aufgrund einer Arbeitszeitverkürzung oder Pausenverlängerung ohne entsprechende Kürzung des Arbeitsentgelts. Aus der Sicht des Erklärungsempfängers, des Arbeitnehmers, liegt eine Tariflohnerhöhung nur dann vor, wenn sich der Gesamtbetrag des tariflich geschuldeten Arbeitsentgelts erhöht.
Dieses Verständnis des üblichen und im allgemeinen zu unterstellenden Anrechnungsvorbehalts entspricht auch dem Zweck einer übertariflichen Zulage. Diese soll das für den Arbeitnehmer verfügbare Einkommen erhöhen und der Entwicklung anpassen. Die Annahme, daß mit der Gewährung einer übertariflichen Zulage, die nicht an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist, regelmäßig ein Anrechnungsvorbehalt verbunden sei, findet ihre Rechtfertigung darin, daß eine solche Tariflohnerhöhung den schon vorher mit der Zulage verfolgten Zweck erfüllt und diese daher ersetzen kann. Das ist indessen nur dann der Fall, wenn sich das Gesamtvolumen des Tarifentgelts erhöht, nicht dagegen bei einer Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich.
Auch nach Auffassung des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist der Gegenwert einer Arbeitszeitverkürzung dann nicht als Tariferhöhung im Sinne des üblichen Anrechnungsvorbehalts anzusehen, wenn nach dem Tarifvertrag eine Monatsvergütung geschuldet ist. Im Gegensatz dazu nimmt der Vierte Senat eine vom Anrechnungsvorbehalt umfaßte Lohnerhöhung dann an, wenn ein tariflicher Stundenlohn zum Ausgleich einer gleichzeitig vorgenommenen Arbeitszeitverkürzung erhöht wird (BAGE 55, 322 = AP Nr. 58 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie, mit ablehnender Anm. Lund; ebenso Urteil vom 28. Oktober 1987 – 4 AZR 242/87 – BB 1988, 702). Um diese Fallgestaltung geht es auch hier. Dennoch ist ein Anfrage- und Vorlageverfahren entbehrlich. Die zwischen dem erkennenden Senat und dem Vierten Senat bestehende Divergenz ist für die Entscheidung des Falles nicht erheblich.
b) Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats hängt nicht davon ab, wie der für die Arbeitszeitverkürzung gewährte Lohnausgleich zu bewerten ist. Die Beklagte hat nämlich, wie auch das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, schon die zweiprozentige Tariferhöhung nicht vollständig auf die übertarifliche Zulage angerechnet. Diese Erhöhung des tariflichen Stundenlohns betrug 0,33 DM. Bei vollständiger Anrechnung hätte sich die Zulage von ursprünglich 3,87 DM auf 3,54 DM vermindert. Tatsächlich reduzierte die Beklagte die übertarifliche Zulage des Klägers im Ergebnis aber nur in geringerem Maß, nämlich auf 3,64 DM: Sie zahlte ihm vom 1. April 1994 an insgesamt 20,75 DM pro Stunde, der neue tarifliche Stundenlohn einschließlich des Ausgleichs für die Arbeitszeitverkürzung betrug 17,11 DM.
Die Beklagte ist zu einer lediglich teilweisen Anrechnung der Tariferhöhung gelangt, weil sie in einem vorangehenden Rechenschritt zunächst den Effektivlohn und damit auch die übertarifliche Zulage um 2,8 % als Gegenwert der Arbeitszeitverkürzung erhöht hat. Insoweit bestand jedoch ein Spielraum für eine anderweitige Regelung, denn zu einer derartigen Erhöhung der Zulage war die Beklagte, was zwischen den Parteien auch unstreitig ist, nicht verpflichtet. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß die Beklagte nicht von vornherein die Tariferhöhung nur teilweise auf die Zulage anrechnen wollte, sondern eine in ihren Augen vollständige Anrechnung mit einer gleichzeitigen freiwilligen Erhöhung der Zulage verband (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1995 – 1 AZR 565/94 – AP Nr. 73 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu I 2 c bb der Gründe). Entscheidend für den Bestand des Mitbestimmungsrechts ist der Umstand, daß die Beklagte einen für eine anderweitige Gestaltung verfügbaren Rest der Tariferhöhung an die Arbeitnehmer weitergegeben hat. Der rechnerische Weg, auf dem sie zu diesem Ergebnis gelangt ist, hat keine rechtliche Bedeutung.
III. War die Anrechnung nicht vollständig und damit mitbestimmungspflichtig, so führt die Verletzung des Mitbestimmungsrechts zu ihrer Unwirksamkeit (BAGE 69, 134, 170 = AP Nr. 51, zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu D II der Gründe). Dabei trifft die Unwirksamkeitsfolge die Anrechnung in vollem Umfang und nicht etwa nur in Höhe des Prozentsatzes, der nach der mitbestimmungsfreien Entscheidung der Beklagten über die Verminderung des gesamten Zulagenvolumens als verfügbarer Teil der Tariferhöhung noch übrig geblieben ist (Senatsurteil vom 19. September 1995 – 1 AZR 208/95 – AP Nr. 61 zu § 77 BetrVG 1972, zu II der Gründe).
Unterschriften
Dieterich, Rost, Wißmann, Muhr, Bayer
Fundstellen