Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %

 

Leitsatz (amtlich)

Nach § 8 des Rahmentarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Kies und Sand, Mörtel und Transportbeton herstellenden Unternehmen in den Bundesländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein vom 9. Dezember 1986 hat der Arbeitnehmer bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 %.

 

Normenkette

EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 n.F.; Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Kies und Sand, Mörtel und Transportbeton herstellenden Unternehmen in den Bundesländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein vom 9. Dezember 1986 § 8

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Urteil vom 28.01.1998; Aktenzeichen 7 Sa 861/97)

ArbG Aachen (Urteil vom 22.05.1997; Aktenzeichen 8 Ca 400/97)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 28. Januar 1998 – 7 Sa 861/97 – aufgehoben.

2. Die Berufung der Kläger gegen die Urteile des Arbeitsgerichts Aachen

vom 22. Mai 1997

- 8 Ca 400/97 -,

vom 22. Mai 1997

- 8 Ca 401/97 -,

vom 22. Mai 1997

- 8 Ca 402/97 -,

vom 22. Mai 1997

- 8 Ca 403/97 -,

vom 21. April 1997

- 5d Ca 346/97 -,

vom 3. Juli 1997

- 8 Ca 546/97 -,

vom 3. Juli 1997

- 8 Ca 547/97 -,

vom 3. Juli 1997

- 8 Ca 426/97 -,

vom 4. August 1997

- 8 Ca 629/97 -,

vom 8. August 1997

- 8 Ca 684/97 -,

vom 18. August 1997

- 8 Ca 1891/97d - und

vom 26. September 1997

- 6 Ca 2235/97d

wird zurückgewiesen.

3. Von den Kosten der Berufung und Revision haben

der Kläger zu

1.

1

%

2.

%

3.

5

%

4.

%

5.

%

6.

%

7.

%

8.

1

%

9.

%

zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Die Kläger sind bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte wendet in ihrem Betrieb den Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Kies und Sand, Mörtel und Transportbeton herstellenden Unternehmen in den Bundesländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein vom 9. Dezember 1986 (RTV-Kies) an. Dieser enthält unter anderen folgende Regelungen:

㤠8 Ausfall des Arbeitnehmers infolge

Krankheit oder Arbeitsunfalles

1. Es gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfalle. Abweichende Berechnungsmethoden können durch Betriebsvereinbarung festgelegt werden.”

Die Kläger waren im Frühjahr 1997 an einigen Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % unter Berufung auf die seit dem 1. Oktober 1996 geltende neue Fassung des § 4 EFZG.

Die Kläger beanspruchen den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie sehen in § 8 Nr. 1 RTV-Kies eine konstitutive Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung. Die Kläger haben entsprechende Zahlungsanträge gestellt. Die Beklagte hat beantragt, die Klagen abzuweisen. Sie sieht in dem § 8 Nr. 1 Satz 1 RTV-Kies eine deklaratorische Verweisung auf die jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen.

Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihnen – nach Verbindung der Prozesse – stattgegeben. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Urteile.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Kläger haben für die Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % ihres Arbeitsentgelts. Der Rahmentarifvertrag enthält keine eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Es handelt sich nicht um eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz.

1. Nach § 8 Nr. 1 Satz 1 RTV-Kies gelten bei „Ausfall des Arbeitnehmers infolge Krankheit oder Arbeitsunfalles … die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfalle” (Lohnfortzahlungsgesetz). Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, daß es sich um einen bloßen Hinweis auf die damals gültigen gesetzlichen Bestimmungen und nicht um eine eigenständige Regelung handelt.

In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – und – 5 AZR 638/97 – beide zur Veröffentlichung vorgesehen).

2. Verweisen Tarifverträge auf gesetzliche Vorschriften, die ohnehin gelten, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – und BAG Urteil vom 4. März 1993 – 2 AZR 355/92 – AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; Senatsurteile vom 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 –, zur Veröffentlichung vorgesehen, und vom 1. Juli 1998 – 5 AZR 456/97 –, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 – 5 AZR 507/63 – AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961). Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder „seiner Bezüge” nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts sind auch Formulierungen, wonach bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bestimmte gesetzliche Vorschriften „gelten”, als Verweisungen anzusehen.

Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen. Da Verweisungen auf ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften typischerweise auf fehlenden Regelungswillen hindeuten, bedarf es in solchen Fällen besonders deutlicher Anhaltspunkte dafür, daß gleichwohl ein Regelungswille bestand.

Aus einer deklaratorischen Verweisung wird nicht dadurch eine eigenständige Regelung, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, außer Kraft treten und die Tarifvertragsparteien die Verweisungsvorschrift unverändert lassen.

3. § 8 Nr. 1 Satz 1 RTV-Kies verweist auf das Lohnfortzahlungsgesetz. Damit haben die Tarifvertragsparteien die gesetzlichen Bestimmungen weder wort- noch inhaltsgleich übernommen. Sie haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergibt sich nicht, daß es sich um eine statische Verweisung und damit um eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung handelt.

Weder aus § 8 Nr. 1 Satz 2 RTV-Kies noch aus der Präambel dieses Tarifvertrages läßt sich schließen, daß die Tarifvertragsparteien in § 8 Nr. 1 Satz 1 RTV-Kies die Höhe der Entgeltfortzahlung geregelt haben. Nach der erstgenannten Vorschrift können „abweichende Berechnungsmethoden … durch Betriebsvereinbarung festgelegt werden”. Unabhängig von der Wirksamkeit dieser Bestimmung handelt es sich um eine konstitutive Regelung. Für die rechtliche Qualifikation des vorangegangenen Satzes ergibt sich daraus aber nichts. In der Präambel des RTV-Kies heißt es, daß dieser Tarifvertrag geschlossen wird „zur Regelung aller Arbeitsbedingungen mit Ausnahme der Tarifstundenlöhne und Ortsklassen”. Damit ist nicht gesagt, daß der Tarifvertrag ausschließlich konstitutive Regelungen enthält.

Entgegen der Auffassung der Kläger sind hier nicht die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze zu Regelungslücken in Tarifverträgen heranzuziehen. Von einer tariflichen Regelungslücke kann nur dann gesprochen werden, wenn nach dem Inhalt des Tarifvertrages „an sich” eine Regelung zu einem bestimmten Punkt zu erwarten gewesen wäre, eine solche aber nicht getroffen wurde. Um einen solchen Fall handelt es sich hier nicht. Mit ihrem deklaratorischen Hinweis auf das Lohnfortzahlungsgesetz haben die Tarifvertragsparteien bewußt keine eigenständige Regelung getroffen. Eine solche war angesichts der damaligen Gesetzeslage auch nicht zu erwarten. Im übrigen würde die Anwendung der Grundsätze über die Schließung von Tariflücken den Klagen nicht zum Erfolg verhelfen. Zwar spricht einiges dafür, daß die Tarifvertragsparteien, wenn sie das Problem denn gesehen hätten, die Fortzahlung des vollen Entgelts vorgesehen hätten. Es ist aber unklar, ob und gegebenenfalls welche Zugeständnisse die Gewerkschaftsseite in einem solchen Fall gemacht hätte. Fehlt es aber an ausreichenden Anhaltspunkten dafür, wie die Tarifvertragsparteien die Lücke mutmaßlich geschlossen hätten, scheidet eine Schließung durch die Gerichte aus.

 

Unterschriften

Reinecke, Kreft, Mikosch, Reinders, Sappa

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 25.11.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Haufe-Index 436149

BB 1999, 376

DB 1999, 747

NZA 1999, 500

RdA 1999, 295

SAE 1999, 294

AP, 0

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