Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag
Normenkette
Einigungsvertrag Art. 13 Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4; Einigungsvertrag Anl. I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4; KSchG § 1
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 08.12.1994; Aktenzeichen 11 (6) Sa 353/93) |
ArbG Chemnitz (Urteil vom 15.09.1993; Aktenzeichen 6 Ca 415/93) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 8. Dezember 1994 – 11 (6) Sa 353/93 – wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier ordentlicher Kündigungen, die der Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 2 und 3 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Abs. 4 Ziff. 2 und 3 EV) stützt.
Der im Jahre 1940 geborene Kläger studierte Ingenieur-Ökonomie an der Technischen Universität D. Von 1970 bis 1973 arbeitete er als wissenschaftlicher Oberassistent an der TU D. In derselben Funktion war er an der TU K. von 1974 bis 1984 tätig. Seit seiner Habilitation im Jahre 1984 arbeitete er als Dozent an derselben Hochschule. Der Beklagte wickelte die Hochschule gemäß Art. 13 EV ab. Mit dem Kläger wurde in einem undatierten Arbeitsvertrag die Aussetzung des Ruhens des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses und die befristete Weiterbeschäftigung bis zum 30. September 1991 vereinbart. Mit Änderungsvertrag vom 1. Juli 1991 vereinbarten die Parteien die Geltung des Bundes-Angestelltentarifvertrages-Ost und die Eingruppierung des Klägers in die VergGr. I b BAT-O. Der Kläger wurde über den 30. September 1991 hinaus weiterbeschäftigt. Er war zuletzt als Dozent und Fachgebietsleiter für Personalwirtschaft und Führungslehre an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von 5.019,84 DM tätig.
Die Entscheidung des Beklagten, an der TU C. die Zahl der Stellen von 2.600 auf 1.600 abzubauen, wurde grundsätzlich so umgesetzt, daß alle verbleibenden Stellen wie bei einer Ausschreibung durch eine Auswahl unter den für die jeweilige Stelle eingegangenen Bewerbungen der bisherigen Mitarbeiter besetzt wurden. Mitarbeiter, die bei dieser Auswahl nicht berücksichtigt wurden, erhielten die Kündigung. Die Bewerbung des Klägers auf die von ihm wahrgenommene Dozentenstelle wurde nicht berücksichtigt. Die für das Wintersemester 1992/93 geplanten Lehrveranstaltungen des Klägers wurden abgesagt und im Sommersemester 1993 von einem Gastdozenten gelesen.
Mit Schreiben vom 23. Dezember 1992, das dem Kläger am 28. Dezember 1992 zuging, kündigte der Rektor der TU C. das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 28. Februar 1993 unter Berufung auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 2 und 3 des Einigungsvertrages wegen mangelnden Bedarfs. Aus demselben Grund kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27. April 1993, das dem Kläger am 30. April 1993 zuging, zum 30. Juni 1993.
Mit der am 13. Januar 1993 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom 23. Dezember 1992 und mit der am 10. Mai 1993 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage die Unwirksamkeit der Kündigung vom 27. April 1993 geltend gemacht. Die Rechtsstreite sind durch Beschluß des Arbeitsgerichts zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
Der Kläger hat geltend gemacht, er sei fachlich qualifiziert, das von ihm wahrgenommene Fachgebiet in Lehre und Forschung selbständig zu vertreten. Dementsprechend habe die Gründungskommission aufgrund geheimer Abstimmung seine Weiterbeschäftigung empfohlen. Die Professorenstellen seien nach Ausspruch der Kündigungen öffentlich ausgeschrieben worden und noch nicht alle besetzt.
Der Kläger hat die ordnungsgemäße Beteiligung der Personalvertretung bestritten.
Der Kläger hat, soweit in der Revisionsinstanz noch erheblich, beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen vom 23. Dezember 1992 und 27. April 1993 nicht aufgelöst worden ist.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat vorgetragen, die Kündigungen seien wegen mangelnden Bedarfs gerechtfertigt, weil die Sektion Wirtschaftswissenschaften aufgelöst worden und dadurch der Arbeitsplatz des Klägers entfallen sei. Die Lehrinhalte der sozialistischen Betriebswirtschaftslehre könnten mit den Inhalten der wettbewerbsorientierten westlichen Betriebswirtschaftslehre nicht verglichen werden. Aufgrund seiner Vorbildung passe der Kläger nicht in den Stellenplan für das wissenschaftliche Personal der neu gegründeten Fakultät. Er sei daher lediglich übergangsweise weiterbeschäftigt worden. Es sei nicht möglich gewesen, die neuen Stellen von heute auf morgen mit westlichen Mitarbeitern zu besetzen. In dem nach dem Sächsischen Hochschulerneuerungsgesetz durchgeführten Auswahlverfahren sei der Kläger nicht zum Zuge gekommen. Die noch unbesetzten Stellen im Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät seien mit den ursprünglichen Steilen der Sektion Wirtschaftswissenschaften nicht vergleichbar und müßten ihrer Natur wegen mit Personen besetzt werden, die Wirtschaftswissenschaften westlichen Zuschnitts gelernt hätten.
Mit dem Personalrat sei bereits im Juli 1992 vereinbart worden, daß in den Auswahlkommissionen zwei Personalratsmitglieder mit Sitz und Stimme zu beteiligen seien, die dem Personalrat über den Hergang in der Auswahlkommission berichten sollten. Jeweils fünf Tage vor Ausspruch der Kündigung seien dem Personalrat Computerlisten der wegen mangelnden Bedarfs zu entlassenden Mitarbeiter zugegangen, aus denen u.a. auch der Name des Klägers hervorgegangen sei. Der Personalrat habe auf eine weitere Erörterung der Angelegenheit ausdrücklich verzichtet und einen Tag vor Ausspruch der Kündigung durch den Personalratsvorsitzenden dem zuständigen Dezernenten für Personal mitgeteilt, daß der Personalrat eine Erörterung nicht wünsche, die Sache abschließend behandelt und keine Einwendungen gegen den Ausspruch der Kündigung habe. Mit Schreiben vom 25. März 1993 sei durch den Rektor der Technischen Universität das Beteiligungsverfahren für die hilfsweise erklärte Kündigung vom 27. April 1993 eingeleitet worden. Dem Personalrat sei unter Bekanntgabe sämtlicher Personaldaten mitgeteilt worden, daß höchst vorsorglich noch einmal eine Kündigung derjenigen Mitarbeiter, denen, wie dem Kläger, bereits im September/Oktober 1992 gekündigt worden sei, ausgesprochen werden solle. Am 1. April 1993 habe der Personalrat unter Hinweis auf seinen Beschluß vom 22. Dezember 1992 mitgeteilt, daß er keine Einwendungen gegen die beabsichtigte Kündigung erhebe. Dem Personalrat sei bekannt gewesen, daß im Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät im wesentlichen nur Gastdozenten eingesetzt worden seien, weil Mitarbeiter der ehemaligen Sektion Wirtschaftswissenschaften hierzu inkompetent gewesen seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Die Kündigungen vom 23. Dezember 1992 und 27. April 1993 haben das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst.
Die streitgegenständlichen Kündigungen sind gemäß § 1 Abs. 1 des anwendbaren Kündigungsschutzgesetzes unwirksam, weil nach der Darlegung des Beklagten weder ein Kündigungstatbestand nach Nr. 1 Abs. 4 EV noch ein Grund der sozialen Rechtfertigung der Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG vorgelegen hat.
I. Die besonderen Kündigungstatbestände des Einigungsvertrages nach Abs. 4 EV finden auf das Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung, denn dieser war im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts Angehöriger des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR.
II. Der Beklagte hat den Kündigungsgrund des mangelnden Bedarfs (Abs. 4 Ziff. 2 und 3 EV) nicht dargelegt.
1. Wie der Zweite Senat bereits mit Urteil vom 5. Oktober 1995 – 2 AZR 1019/94 – (AP Nr. 55 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 2 a der Gründe) entschieden hat, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß im Zuge der Erneuerung des Hochschulwesens gemäß §§ 126 ff. Sächsisches Hochschulerneuerungsgesetz, § 11 Sächsisches Hochschulstrukturgesetz keine Stellen fortgeführt, sondern alle nach dem Haushalt vorgesehenen Stellen aus dem Kreis der bisherigen Beschäftigten neu besetzt werden. Verlief das im Zuge der Besetzung der vorhandenen Stellen erforderliche Auswahlverfahren rechtmäßig, so bestand für die weitere Verwendung der nicht zum Zuge gekommenen Arbeitnehmer kein Bedarf mehr. Diesen Beschäftigten konnte gemäß Abs. 4 Ziff. 2 und 3 EV wirksam gekündigt werden. Diese Vorgehensweise setzt aber voraus, daß der Beklagte eine willkürfreie, mit dem Grundsatz von Treu und Glauben vereinbare Auswahlentscheidung im Besetzungsverfahren getroffen hat.
2. Der mangelnde Bedarf an der Beschäftigung des Klägers folgt nicht aus der Abwicklung und Auflösung der Technischen Hochschule C. bzw. ihrer Sektion Wirtschaftswissenschaften zum 31. Dezember 1990. Der Kläger wurde über diesen Termin hinaus an der Technischen Universität C. weiterbeschäftigt. Deshalb könnte sich allein aus dem Fortfall des Beschäftigungsbedarfs an dieser Dienststelle zum Kündigungszeitpunkt der mangelnde Bedarf im Sinne von Abs. 4 Ziff. 2 EV ergeben. Daß das vom Kläger in den Jahren 1991 und 1992 geleitete Fachgebiet „Personalwirtschaft und Führungslehre” zum Ende des Wintersemesters 1992/93 oder zum Sommersemester 1993 ersatzlos fortfallen sollte, ist vom Beklagten jedoch nicht behauptet worden. Vielmehr hat er selbst vorgetragen, ab dem Sommersemester 1993 sei auf diesem Gebiet ein aus den westdeutschen Bundesländern stammender Gastdozent eingesetzt worden. Wenn die Weiterbeschäftigung eines Dozenten oder Professors auf dem bis zum Kündigungszeitpunkt vom Kläger wahrgenommenen Wissenschaftsgebiet tatsächlich möglich war, der Kläger aber nach Auffassung des Beklagten wegen unzureichender Qualifikation oder Eignung hierfür nicht in Betracht kam, rechtfertigte dies keine Kündigung nach Abs. 4 Ziff. 2 oder 3 EV, sondern allenfalls nach Abs. 4 Ziff. 1 EV.
III. Die Kündigung ist nicht wegen mangelnder Qualifikation oder Eignung des Klägers gemäß Abs. 4 Ziff. 1 EV wirksam. Der Beklagte hat zwar geltend gemacht, dem Kläger fehle trotz seiner Habilitation die Befähigung zur Übernahme auf eine Professorenstelle und er sei wegen seiner mehrjährigen Tätigkeit als Parteisekretär an der Sektion Wirtschaftswissenschaften persönlich ungeeignet, doch kann der Beklagte im Kündigungsrechtsstreit auf diese Sachverhalte die ausgesprochenen Kündigungen nicht stützen, weil er hierzu nach eigener Darlegung den Personalrat nicht angehört hat. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. nur BAG Urteil vom 18. Dezember 1980 – 2 AZR 1006/78 – BAGE 34, 309 = AP Nr. 22 zu § 102 BetrVG 1972; Urteil vom 11. April 1985 – 2 AZR 239/84 – BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972), daß der Arbeitgeber Kündigungsgründe, die bei Ausspruch der Kündigung bereits entstanden waren, im Kündigungsschutzprozeß nur nachschieben kann, wenn der Arbeitgeber zuvor den Betriebsader Personalrat hierzu angehört hat. Über die vom Beklagten behauptete mangelnde Qualifikation des Klägers für eine der ausgeschriebenen Professorenstellen oder seine mangelnde politische Eignung ist jedoch der Personalrat nicht unterrichtet worden.
IV. Weitere Gründe, die die ausgesprochenen Kündigungen sozial rechtfertigen könnten, sind nicht dargelegt worden.
V. Ob die Kündigung vom 23. Dezember 1992 gemäß § 79 Abs. 4 PersVG-DDR oder § 79 Abs. 4 BPersVG und die Kündigung vom 27. April 1993 gemäß § 78 Abs. 3 des am 30. Januar 1993 in Kraft getretenen Sächsischen Personalvertretungsgesetzes unwirksam sind, bedarf wegen der vorstehenden Ausführungen zum Kündigungsgrund keiner Erörterung.
VI. Der Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Müller-Glöge, Mikosch, R. Iskra, Dr. Haible
Fundstellen