Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Versorgungsordnung. “Haupternährerklausel”. Parallelsache zu – 3 AZR 387/99 –. Gesamtbetrachtung oder Bewertung der Zeit unmittelbar vor dem Nachversorgungsfall?. Betriebliche Altersversorgung
Orientierungssatz
- Es bleibt unentschieden, ob die Bestimmung, wonach ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nur dann besteht, wenn der Verstorbene den Unterhalt seiner Familie überwiegend bestritten hat (“Haupternährerklausel”) wirksam ist. Bedenken bestehen im Hinblick auf das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts, aber auch wegen des Bestimmtheitsgebotes.
- Für die Feststellung der Haupternährereigenschaft eines verstorbenen früheren Arbeitnehmers oder Betriebsrentners ist jedenfalls im Zweifel eine Gesamtbetrachtung geboten. Eine Entscheidung allein nach der wirtschaftlichen Situation der Familie unmittelbar vor dem Nachversorgungsfall ist regelmäßig nicht gewollt.
Normenkette
BetrAVG § 1 Auslegung; BetrVG § 77 Abs. 2; BGB §§ 133, 157
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf betriebliche Hinterbliebenenversorgung hat.
Die am 2. Juli 1947 geborene Klägerin ist die Witwe des am 28. Mai 1936 geborenen und am 25. August 1998 verstorbenen A…. Herr A… war vom 15. November 1965 an zunächst bei einer Firma K… und dann nach deren Übernahme durch die Beklagte im Jahre 1969 bei dieser bis zum 30. Juni 1994 beschäftigt. Seit dem 1. Juni 1996 bezog er im Hinblick auf seine Schwerbehinderung vorgezogenes gesetzliches Altersruhegeld sowie von der Beklagten eine Betriebsrente von 820,00 DM monatlich. Grundlage dieser Zahlung war die Versorgungsordnung der Beklagten, zuletzt in der Fassung einer Gesamtbetriebsvereinbarung vom 7. Juni 1982, die am 1. April 1982 in Kraft getreten ist (im folgenden: VO). In ihr heißt es hier im wesentlichen:
Ҥ 6
Witwenrente
1. Eine Witwenrente erhält die Ehefrau eines Mitarbeiters oder Firmenrentners, wenn der Verstorbene den Unterhalt seiner Familie überwiegend bestritten hat (Haupternährereigenschaft).
2. Eine Witwenrente wird nicht gezahlt wenn,
a) die Ehe nicht bis zum Tode des Mannes bestanden hat,
…
§ 7
Witwerrente
§ 6 gilt entsprechend für den Witwer einer Mitarbeiterin oder Firmenrentnerin.
…
§ 9
Höhe der Versorgungsleistungen
…
7. Die Witwenrente beträgt 60 % der Firmenrente, die der verstorbene Ehemann bei seinem Tode bezog oder die er bezogen hätte, wenn er am Todestag berufsunfähig geworden und ausgeschieden wäre.
Diese Regelung gilt entsprechend für die Witwerrente.
…”
Die Klägerin war mit Herrn A… seit dem 5. Dezember 1985 verheiratet. Bis zum Jahre 1992 einschließlich überstiegen die Bruttobezüge ihres verstorbenen Ehemannes ihre eigenen. 1993 war das Einkommen der Klägerin höher, weil ihr Ehemann für einen längeren Zeitraum nur Krankengeld bezog. Auch in den Jahren 1995 bis 1998 waren die Einkünfte der Klägerin höher als die ihres Ehemannes, der in dieser Zeit zunächst Arbeitslosengeld und dann Rente bezog. Nur im Jahr 1994, in dem ihm von der Beklagten eine Abfindung in Höhe von 42.000,00 DM für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt worden war, waren seine Gesamteinkünfte noch einmal höher als die der Klägerin.
Die Klägerin hat den Standpunkt eingenommen, nach der Versorgungsordnung komme es nicht darauf an, ob der verstorbene Mitarbeiter oder Firmenrentner zum Zeitpunkt seines Todes den Familienunterhalt überwiegend bestritten habe. Es komme darauf an, daß der Unterhalt von dem früheren Arbeitnehmer insgesamt überwiegend und nicht lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt überwiegend bestritten worden sei. Die Beklagte müsse deshalb eine Witwenrente von 60 % der von ihrem verstorbenen Ehemann zuletzt bezogenen Betriebsrente, also 492,00 DM monatlich, zahlen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie
- für die Zeit vom 1. September 1998 bis zum 31. März 1999 eine rückständige Witwenrente von 3.444,00 DM nebst 4 % Zinsen von 492,00 DM seit dem 1. Oktober, 1. November, 1. Dezember 1998 und 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April 1999,
- und
- laufend ab April 1999 eine monatliche Witwenrente von 492,00 DM, zahlbar jeweils am Monatsende,
zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach ihrer Auffassung war die Klägerin im Zeitpunkt des Ablebens ihrer Ehemannes Haupternährerin iSv. § 6 Abs. 1 VO. Ihr stehe deshalb eine Witwenrente nicht zu.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben sie zu Recht verurteilt, an die Klägerin eine Witwenrente nach § 6 Abs. 1, § 9 Abs. 7 VO in rechnerisch unstreitiger Höhe von 492,00 DM monatlich zu zahlen.
Die Klägerin war bei Eintritt des Nachversorgungsfalles, des Todes des Herrn A…, eines Firmenrentners der Beklagten, dessen Ehefrau. Auch die zusätzliche Anspruchsvoraussetzung des § 6 Abs. 1 VO ist erfüllt. Der verstorbene Herr A… hat “den Unterhalt seiner Familie überwiegend bestritten”. Es kommt insoweit entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nur auf die letzte Zeit unmittelbar vor dessen Tod, sondern auf eine Gesamtbetrachtung an.
- Der Wortlaut von § 6 Abs. 1 VO ist unklar. Die von den Betriebspartnern gewählte Formulierung gibt keinen Hinweis darauf, ob es für die Feststellung der Haupternährereigenschaft auf eine Gesamtbetrachtung oder nur auf einen kurzen Zeitraum vor dem Nachversorgungsfall ankommt.
Für die Auslegung einer Betriebsvereinbarung gilt indes ebenso wie für die eines Tarifvertrages, daß vertragschließende Normgeber im Zweifel eine vernünftige, sachgerechte, zweckorientierte und praktisch brauchbare Regelung schaffen wollen. Einem nach dem Wortlaut möglichen Auslegungsergebnis, das diesen Anforderungen anders als die Auslegungsalternative genügt, gebührt deshalb der Vorrang(BAG 25. Oktober 1995 – 4 AZR 478/94 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 57 = EzA TVG § 4 Ausschlußfristen Nr. 116, zu I 1c aa der Gründe mwN). Hiernach kann für die Feststellung der Haupternährereigenschaft nur eine Gesamtbetrachtung maßgeblich sein.
Eine Beurteilung, die lediglich auf die letzte Zeit unmittelbar vor dem Nachversorgungsfall abstellt, kann zu ganz zufälligen und dem Versorgungsziel der Betriebspartner zuwiderlaufenden Ergebnissen führen.
Erkrankt ein Arbeitnehmer, der während der gesamten Zeit des Ehelebens ganz überwiegend den Familienunterhalt bestritten hat, über einen längeren Zeitraum und stirbt schließlich auch an dieser Erkrankung, kann es sein, daß er zuletzt nur noch Krankengeld oder – wenn er nicht pflichtversichert war oder die Krankheitszeit außergewöhnlich lang andauerte – überhaupt keine Entgeltersatzleistungen mehr erhielt. Dadurch könnte sein Einkommen hinter das seiner an sich nur “hinzuverdienenden” oder wegen seiner Erkrankung überhaupt erst in das Arbeitsleben zurückgekehrten Ehefrau zurückfallen, obwohl diese sich bei ihrer gesamten Berufs- und Versorgungsplanung auf die Einkünfte ihres Ehemannes eingestellt hatte und auch einstellen konnte. Nach Auffassung der Beklagten würde einer solchen Witwe kein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zustehen.
Es ist auch nicht selten so, daß Ehefrauen um einiges jünger als ihre Ehemänner sind. Es kann dann dazu kommen, daß der Nachversorgungsfall in einem Zeitraum eintritt, in welchem der Ehemann schon Rentner ist, während seine Frau noch im aktiven Arbeitsleben steht. Die Ehefrau wird deshalb zum Zeitpunkt des Todes ihres Mannes möglicherweise höhere Einkünfte haben, als ihr Ehemann, obwohl dieser in der Zeit, in der beide Ehepartner berufstätig waren, stets mehr als seine Frau verdient hat. Wäre der Ehemann nur einige Zeit später gestorben, nachdem auch seine Ehefrau den Ruhestand erreicht hätte, wäre wieder er der Haupternährer gewesen, weil sich die unterschiedliche Höhe der Bezüge als aktiver Arbeitnehmer in der unterschiedlichen Höhe der Renten widergespiegelt hätte. In diesem Fall hätte die hinterbliebene Ehefrau auch nach der Auffassung der Beklagten wieder einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung.
Es ist auszuschließen, daß die Betriebspartner mit § 6 Abs. 1 VO solche Ergebnisse, die bei einer mehr punktuellen Betrachtung der Haupternährereigenschaft auf der Hand lagen, in Kauf nehmen wollten.
Auch Sinn und Zweck der Versorgungsordnung der Beklagten und der dort versprochenen Hinterbliebenenversorgung sprechen für die vom Landesarbeitsgericht für richtig gehaltene Gesamtbetrachtung zur Feststellung der Haupternährereigenschaft des früheren Arbeitnehmers oder Betriebsrentners.
- Ein Arbeitgeber, der Hinterbliebenenversorgung zusagt, verspricht ein zusätzliches Entgelt für die von ihm erwartete Betriebstreue seines Arbeitnehmers (BAG 5. September 1989 – 3 AZR 575/88 – BAGE 62, 345, 350). Eine betriebliche Hinterbliebenenrente ist auch Entgelt iSd. Art. 141 EG (EuGH 17. April 1997 – Rs. C-147/95 – Evrenopoulos EuGHE I 1997, 2057; Oetker/Preis EAS Stand August 2000 EG-Vertrag Art. 119 Nr. 41 Rn. 22). Ein Arbeitnehmer, der während seines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten jedenfalls ganz überwiegend der Haupternährer der Familie war, erbringt seine Arbeitsleistung auch im Hinblick auf die ihm für seine Ehefrau zugesagte Hinterbliebenenversorgung. Im Hinblick auf diese Zusage verzichtet er möglicherweise auch darauf, eine zusätzliche, den aktuellen Lebensstandard erhaltende private Hinterbliebenenversorgung sicherzustellen. Daraus ergibt sich ein schützenswertes Vertrauen darauf, daß dem Arbeitnehmer bei Erreichen dieses Versorgungsfalles auch die versprochenen Leistungen zugute kommen. Dieses schützenswerte Vertrauen würde enttäuscht, könnte der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung allein deshalb wegfallen, weil der Arbeitnehmer oder Betriebsrentner ausnahmsweise während der letzten Zeit vor seinem Tod nicht der Haupternährer der Familie war.
Auch dann, wenn man den Versorgungszweck einer betrieblichen Hinterbliebenenrente in den Vordergrund stellt, spricht alles dafür, die Haupternährereigenschaft im Wege einer Gesamtbetrachtung festzustellen.
Versorgungsleistungen sollen dazu beitragen, daß der einmal erreichte Lebensstandard möglichst weitgehend gewahrt bleiben kann. Dieser Lebensstandard bildet sich nicht in der letzten Zeit vor dem Tod des früheren Arbeitnehmers, sondern über einen längeren Zeitraum. Kurzfristige Verschlechterungen des Einkommens des bisherigen Haupternährers führen jedenfalls zunächst nicht zu einer dauernden Veränderung des Unterhaltsbedarfs des Ehepartners. Zunächst wird nur die wirtschaftliche Grundlage der Familie erschüttert und es besteht ein vorübergehender Überbrükkungsbedarf. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer während seines Arbeitslebens der Haupternährer war und dann mit dem Übergang in die gesetzliche Rente mit seinen Einkünften hinter die seines jüngeren und deshalb noch im aktiven Arbeitsleben stehenden Ehepartners zurückgefallen ist. Dieses Verhältnis der Einkünfte der Eheleute zueinander ist nur vorläufig. Erreicht auch der Ehepartner das Rentenalter, fällt er mit seinen regelmäßigen Einkünften zurück und bedarf der Leistungen seines Ehegatten oder der von diesem erworbenen Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung.
- Es kann unentschieden bleiben, ob es im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung für die Feststellung der Haupternährereigenschaft auf die Zeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses des früheren Arbeitnehmers bei der Beklagten oder die Zeit bis zu dessen Tod ankommt. Selbst wenn man die gesamte Zeit der Ehe bis zum Tode des Herrn A… berücksichtigt, hat dieser den Unterhalt seiner Familie überwiegend bestritten. Die Klägerin und Herr A… waren etwas mehr als 12 Jahre und 8 Monate miteinander verheiratet, als dieser starb. Während acht Jahren hatte Herr A… ein höheres Jahreseinkommen als die Klägerin. Angesichts dessen kann dahinstehen, ob die atypischen Beschäftigungsjahre, in denen Herr A… wegen langer Erkrankung oder Arbeitslosigkeit geringere Einkünfte als seine Ehefrau hatte, überhaupt im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen sind.
Da die Klägerin nach alledem die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 VO erfüllt und ein anspruchsausschließender Tatbestand nicht vorliegt, kann dahinstehen, ob die besondere Anspruchsvoraussetzung für den Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung, die Haupternährereigenschaft des früheren Arbeitnehmers, wirksam ist. Auf Bedenken im Hinblick auf das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung beim Entgelt hat der Senat bereits in seinem Vorabentscheidungsersuchen vom 7. Juli 1992 (– 3 AZR 530/91 – DB 1992, 1484) hingewiesen, das auf Grund eines außergerichtlichen Vergleichs gegenstandslos wurde und aufgehoben worden ist (aA LAG Hamm 8. Dezember 1998 – 6 Sa 674/98 – nv.; Höfer BetrAVG Stand Juli 2000 ART Rn. 582.25; zweifelnd Blomeyer/Otto BetrAVG 2. Aufl. Einleitung Rn. 221; unklar Andresen/Förster/Rößler/Rühmann Arbeitsrecht der Betrieblichen Altersversorgung Teil 4A Rn. 57 einerseits, Teil 9C Rn. 52 andererseits).
Darüber hinaus könnte die Haupternährerklausel Bedenken aus dem Bestimmtheitsgebot begegnen. Sie macht nicht hinreichend deutlich, welche Einkünfte hier zu berücksichtigen sind. Da die Versorgungsordnung keine Auskunftspflichten des Hinterbliebenen festlegt, läßt sich dies auch nicht aus der Versorgungsordnung im übrigen herleiten.
Unterschriften
Reinecke, Bepler, Kreft, Auerbach, Arntzen
Fundstellen