Entscheidungsstichwort (Thema)
Berechnung des Vorruhestandsgeldes im Baugewerbe
Leitsatz (amtlich)
Eine tarifliche Berechnungsvorschrift, nach der das Vorruhestandsgeld an der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit zu messen ist, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Im Rahmen solcher typisierender Regelungen können abweichende Arbeitszeiten besonderer Arbeitnehmergruppen vernachlässigt werden (im Anschluß an BAG Urteil vom 6. November 1990 – 3 AZR 400/89 – NZA 1991, 433).
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; VRG § 2 Abs. 1 Nr. 1a, § 3 Abs. 2; Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 3. Februar 1981 i.d.F. vom 29. April 1988 (BRTV) § 3; Tarifvertrag über den Vorruhestand im Baugewerbe vom 26. September 1984 i.d.F. vom 12. November 1986 (VRTV-Bau) § 5
Verfahrensgang
LAG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 11.12.1989; Aktenzeichen 7 Sa 685/89) |
ArbG Koblenz (Urteil vom 28.06.1989; Aktenzeichen 9 Ca 53/89 N) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Dezember 1989 – 7 Sa 685/89 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision einschließlich der Kosten der Nebenintervenientin zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Berechnung des Vorruhestandsgeldes. Der Kläger war seit dem 3. Juni 1985 als Kraftfahrer (Baumaschinist) bei der Beklagten beschäftigt. Seine wöchentliche Arbeitszeit betrug 45 Stunden. In dem auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden allgemeinverbindlichen Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 3. Februar 1981 in der Fassung vom 29. April 1988 (BRTV) ist zur Arbeitszeit folgendes geregelt:
Ҥ 3 Arbeitszeit
Am 1. Dezember 1988 trat der Kläger in den Vorruhestand. Im für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über den Vorruhestand im Baugewerbe vom 26. September 1984 in der Fassung vom 12. November 1986 (VRTV-Bau) ist zur Berechnung des Vorruhestandsgeldes bestimmt:
“ § 5
Höhe und Fälligkeit des Vorruhestandsgeldes
- Mit Beginn des Vorruhestandes hat der ausgeschiedene Arbeitnehmer gegen seinen bisherigen Arbeitgeber Anspruch auf ein monatlich zu zahlen- des Vorruhestandsgeld in Höhe von 75 vom Hundert des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts gemäß Abs. 2 bis 5, mindestens jedoch in Höhe des Betrages gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Vorruhestandsgesetzes (VRG). Die Auszahlung und Abrechnung erfolgt zu dem Zeitpunkt, zu dem im Betrieb die Löhne und Gehälter ausgezahlt und abgerechnet werden.
Bruttoarbeitsentgelt ist das Arbeitsentgelt, das der gewerbliche Arbeitnehmer vor Beginn des Vorruhestandes in den letzten abgerechneten, insgesamt 12 Monate umfassenden Lohnabrechnungszeiträumen (Berechnungszeit) erzielt hat, soweit es im jeweiligen Monat die Beitragsbemessungsgrenze des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AFG nicht überschreitet. Ein Lohnabrechnungszeitraum gilt als abgerechnet, wenn mindestens für eine Stunde Bruttoarbeitsentgelt abgerechnet worden ist. Zum Bruttoarbeitsentgelt gehören nicht
- Teile eines 13. Monatseinkommens, Weihnachtsgeld
- zusätzliches Urlaubsgeld
- unregelmäßig oder einmalig gewährte Prämien
- Auslösungen, Fahrtkostenabgeltungen und Verpflegungszuschüsse.
…
- Das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt für gewerbliche Arbeitnehmer ist das gemäß Abs. 2 ermittelte Bruttoarbeitsentgelt, geteilt durch die um die Überstunden verminderte Zahl der lohnzahlungspflichtigen Stunden in der Berechnungszeit, vervielfacht mit 173. Beginnt der Vorruhestand vor dem 1. April 1986, so ist das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt für gewerbliche Arbeitnehmer das gemäß Abs. 2 ermittelte Bruttoarbeitsentgelt, geteilt durch die Zahl der lohnzahlungspflichtigen Stunden in der Berechnungszeit, vervielfacht mit 173 und mit 1,07. Ist Teilzeitarbeit vereinbart, so ist das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt gemäß Satz 1 im Verhältnis der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit zur tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zu kürzen.
- Das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt für Angestellte ist das gemäß Abs. 2 ermittelte Bruttoarbeitsentgelt, geteilt durch 12, vervielfacht mit 1,07. Beginnt der Vorruhestand nach dem 31. März 1986, so entfällt die Vervielfachung mit 1,07.
- …”
Der Kläger erhält nach den Berechnungen der Beklagten und des Streithelfers, der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes VVaG (ZVK), ein monatliches Vorruhestandsgeld von 2.059,13 DM brutto.
Der Kläger hat die Rechtsauffassung vertreten, die tarifvertraglich in § 5 Abs. 3 Satz 1 VRTV-Bau genannte Zahl 173 müsse aufgrund seiner tariflich und tatsächlich längeren Arbeitszeit durch die Zahl 195 ersetzt werden. Mit dieser Zahl sei der ermittelte Stundenlohn zu vervielfachen, um das Vorruhestandsgeld zu errechnen.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn beginnend mit dem 1. Dezember 1988 ein monatliches Vorruhestandsgeld von 2.395,58 DM abzüglich eines festgesetzten und gezahlten Urlaubsgeldes von 2.059,13 DM längstens bis zum Beginn des 65. Lebensjahres zu zahlen.
Der Beklagte und der Streithelfer haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen und die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesarbeitsgericht durch Beschluß vom 22. Mai 1990 – 3 AZN 141/90 – die Revision zugelassen, soweit der Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 1988 bis zum Beginn des 65. Lebensjahres ein Vorruhestandsgeld von monatlich 2.320,99 DM fordert. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel in dem zugelassenen Rahmen weiter. Der Beklagte und der Streithelfer bitten, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, daß der Kläger kein höheres Vorruhestandsgeld verlangen kann. Die Berechnungsvorgaben des § 5 Abs. 3 VRTV-Bau sind nicht zu beanstanden, soweit die tatsächlich längere Arbeitszeit der Kraftfahrer und Maschinisten dort rechnerisch nicht berücksichtigt worden ist.
1. Im Rahmen der beschränkt zugelassenen Revision ist nur noch zu entscheiden, ob das dem Kläger zustehende Vorruhestandsgeld nach der um regelmäßig 22 Stunden längeren Monatsarbeitszeit (§ 3 Nr. 1.2 BRTV) der Kraftfahrer und Maschinisten zu berechnen ist.
Die Revision beanstandet, daß ein Festhalten an der tariflich mit dem ermittelten Stundensatz zu vervielfältigenden Zahl 173 zu einer Benachteiligung des Klägers und aller anderen Lkw-Fahrer und Maschinisten im Geltungsbereich des BRTV führen würde, ohne daß dafür ein sachlicher Grund gegeben sei. Für diese Arbeitnehmergruppe werde nicht ihr Durchschnittslohn, sondern der von Arbeitnehmern mit nur 40 anstelle von 45 tatsächlich geleisteten Wochenstunden zugrundegelegt. Dies verstoße gegen den Gleichheitssatz. Hätten die Tarifvertragsparteien die besonderen Arbeitsbedingungen der Kraftfahrer und Maschinisten bedacht, wäre für sie als Multiplikator 195 angesetzt worden.
2. Diese Angriffe der Revision rechtfertigen keine Änderung des Urteils des Landesarbeitsgerichts.
a) Die Berechnungsvorschrift zum Vorruhestandsgeld in § 5 Abs. 3 VRTV-Bau ist nach Wortlaut und tariflicher Systematik eindeutig. Entgegen der Rechtsauffassung der Revision haben die Tarifvertragsparteien die Besonderheiten der Arbeitszeitgestaltung besonderer Arbeitnehmergruppen gesehen. So ist in § 5 Abs. 3 Satz 3 VRTV-Bau die Berechnung des Vorruhestandsgeldes für Teilzeitarbeitskräfte abweichend geregelt worden. § 5 Abs. 3 Satz 1 V RTV-Bau enthält die Berechnung des Vorruhestandsgeldes aller vollzeitbeschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer, § 5 Abs. 4 VRTV-Bau die aller vollzeitbeschäftigten Angestellten. Es gibt deshalb keine Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage ungeregelt gelassen haben (vgl. BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975).
b) Die tarifliche Berechnungsregelung gewährt zwar dem Kläger keinen Vorteil, sie verstößt aber auch nicht gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Tarifvertragsparteien haben nach Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich Gestaltungsfreiheit. Die Gerichte dürfen deshalb nicht prüfen, ob die Tarifvertragsparteien die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen haben. Sie haben lediglich zu kontrollieren, ob die bestehende Regelung die Grenzen der Tarifautonomie überschreitet (BAGE 66, 307, 313; BAG Urteil vom 25. Februar 1987 – 8 AZR 430/84 – AP Nr. 3 zu § 52 BAT; BAG Urteil vom 1. Juni 1983 – 4 AZR 566/80 – AP Nr. 5 zu § 611 BGB Deputat, m.w.N.). So sind die Tarifvertragsparteien an die Grundrechte und damit auch an den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden (BAG Urteil vom 25. Februar 1987, aaO; BAG Urteil vom 13. November 1985 – 4 AZR 234/84 – AP Nr. 136 zu Art. 3 GG, m.w.N.). Art. 3 Abs. 1 GG wäre im zu entscheidenden Rechtsstreit allenfalls verletzt, wenn die Tarifvertragsparteien bei der Berechnung des Vorruhestandsgeldes von in unterschiedlicher regelmäßiger Wochenarbeitszeit vollzeitbeschäftigten gewerblichen Arbeitnehmern Ungleichheiten unberücksichtigt gelassen hätten, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten berücksichtigt werden müssen (BAGE 66, 307, 312, m.w.N.; ständige Rechtsprechung).
Davon ist hier nicht auszugehen. Der Arbeitnehmer soll nach dem VRTV-Bau als Vorruhestandsleistung nur Bezüge erhalten, die auf die regelmäßig zu leistende tarifliche Arbeitszeit entfallen. Überstundenvergütungen sind nach der für den Kläger geltenden Fassung des VRTV-Bau nicht zu berücksichtigen. Dementsprechend hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts in dieser Einschränkung keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG gesehen (BAG Urteil vom 6. November 1990 – 3 AZR 400/89 – NZA 1991, 433) und zur Begründung darauf verwiesen, daß das Bundesverfassungsgericht § 112 Abs. 2 und Abs. 4 AFG, wonach die in der Vergangenheit geleisteten Überstunden bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes nicht in Ansatz zu bringen sind, ebenfalls mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot als vereinbar angesehen hat (BVerfGE 51, 115). Das Bundesverfassungsgericht hat diese gesetzliche Berechnungsvorschrift nicht beanstandet, weil sich rechnerische Nachteile im Einzelfall als Folgen einer typisierenden Regelung erweisen, die vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen notwendig und verfassungsrechtlich grundsätzlich hinnehmbar sind (vgl. BVerfGE 51, 115, 122 f., m.w.N.).
Eine solche typisierende Berechungsregelung haben auch die Tarifvertragsparteien in § 5 Abs. 3 VRTV-Bau zum Vorruhestandsgeld der gewerblichen Bauarbeitnehmer getroffen. Das tarifliche Vorruhestandsgeld hat ähnlich wie das Arbeitslosengeld – wenngleich mit anderer arbeitsmarktpolitischer Zielsetzung – den Zweck, eine soziale Grundsicherung (bis zum Eintritt in den Ruhestand) zu gewährleisten. Diese Grundsicherung kann die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit und das in diesem Zeitraum bezogene Arbeitsentgelt zum rechnerischen Maßstab nehmen. Die Revision übersieht insoweit, daß die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit nach § 3 Nr. 1.1 BRTV 40 Wochenstunden beträgt, selbst wenn § 3 Nr. 1.2 BRTV es erlaubt, die wöchentliche Arbeitszeit für Kraftfahrer um bis zu fünf Stunden zu verlängern. Bei diesen zusätzlichen Stunden handelt es sich materiell um Überstunden, die den Kraftfahrern ab der 41. Stunde mit dem erhöhten Überstundensatz bezahlt werden müssen (vgl. § 3 Nr. 2.1 BRTV). Eine solche tariflich mögliche und gesondert zu vereinbarende Verlängerung der Wochenarbeitszeit braucht dann ebensowenig wie jede Überstunde (vgl. BAG Urteil vom 6. November 1990, aaO) in die Bemessung des Vorruhestandsgeldes einzufließen. Die gesetzliche Untergrenze bestimmt insoweit das Vorruhestandsgesetz (VRG), wonach mindestens 65 % des innerhalb der letzten sechs abgerechneten Lohnzeiträume durchschnittlich erzielten monatlichen Bruttoarbeitsentgelts als Vorruhestandsgeld zu zahlen sind (§§ 2 Abs. 1 Nr. 1a, 3 Abs. 2 VRG). Nach der zutreffenden Berechnung des Landesarbeitsgerichts ist das Vorruhestandsgeld des Klägers höher. Andererseits bleibt es aber den Tarifvertragsparteien in Ausübung ihrer verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie unbenommen, durch Obergrenzen die Höhe des von ihnen vereinbarten Vorruhestandsgeldes zu beschränken, um Arbeitgeber nicht finanziell zu überfordern. Wenn die Tarifvertragsparteien sich für die Berechnung insoweit an der tariflichen Wochenarbeitszeit (173 Stunden im Monat = Faktor 173) orientiert haben, bestehen dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken nach Art. 3 Abs. 1 GG. Schließlich wird der Kläger als Kraftfahrer im Verhältnis zu den übrigen gewerblichen Bauarbeitnehmern nicht finanziell schlechter gestellt, da die tariflichen Stundenlöhne für beide Arbeitnehmergruppen nicht wesentlich voneinander abweichen. Der Streithelfer hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, daß der Kläger unter diesen Umständen gegenüber anderen Vorruhestandsempfängern bevorzugt würde, wenn für ihn der Mulitplikator von 173 auf 195 zu erhöhen wäre.
3. Die Kosten der Revision einschließlich der Kosten der Nebenintervention sind nach §§ 97, 101 ZPO dem unterlegenen Kläger aufzuerlegen.
Unterschriften
Dr. Leinemann, Dörner, Dr. Lipke, Jansen, Brocksiepe
Fundstellen
Haufe-Index 846791 |
NZA 1993, 759 |
RdA 1992, 405 |