Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
§ 13 des Rahmentarifvertrags für den Hamburger Groß- und Außenhandel vom 15. Mai 1991 enthält keine konstitutive Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und begründet keinen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 %.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 in der vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung; Rahmentarifvertrag für den Hamburger Groß- und Außenhandel vom 15. Mai 1991 § 13
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 24. September 1998 – 2 Sa 26/98 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 12. Januar 1998 – 21 Ca 371/97 – abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten 80 % oder 100 % Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangen kann.
Der Kläger ist seit dem 1. Oktober 1977 bei der Beklagten als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für den Hamburger Groß- und Außenhandel Anwendung.
In der Zeit vom 17. Februar 1997 bis zum 18. April 1997 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte zahlte ihm in diesem Zeitraum Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines regulären Gehaltes. Es galt zu diesem Zeitpunkt der Rahmentarifvertrag für den Hamburger Groß- und Außenhandel vom 15. Mai 1991 (im folgenden RTV 1991), der unter anderem folgende Regelung enthält:
„§ 13 Arbeitsunfähigkeit
1. Bei Erkrankung ist dem Arbeitgeber hierüber unverzüglich Mitteilung zu machen. Der/die erkrankte Arbeitnehmer/in hat innerhalb von drei Tagen eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer vorzulegen. Dies gilt entsprechend bei Fortsetzungserkrankungen.
2. In Fällen unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit oder während einer Kur oder eines Heilverfahrens gelten die gesetzlichen Regelungen betreffend Gehalts- und Lohnfortzahlung.
3. Bei längerer Krankheit ist den Angestellten, die dem Betrieb mehr als fünf Jahre angehören, über sechs Wochen hinaus bis zu einer Gesamtkrankheitsdauer von zwei Monaten einmal im Jahr eine Beihilfe in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen Krankengeld und 90 % des Nettogehaltes zu zahlen. Angestellten mit mehr als 10-jähriger Betriebszugehörigkeit ist diese Beihilfe bis zu einer Gesamtkrankheitsdauer von drei Monaten zu zahlen. Bei Angestellten, welche kein Krankengeld beziehen, ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeldsatz der Ortskrankenkasse (Höchstsatz für versicherungspflichtige Angestellte) und 90 % des Nettogehaltes zu zahlen.”
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, § 13 RTV 1991 enthalte eine selbständige Regelung. Er verlangt die Differenz zum vollen Gehalt für den Entgeltfortzahlungszeitraum in unstreitiger Höhe.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.130,18 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 13. August 1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, § 13 RTV 1991 regele die Höhe der Entgeltfortzahlung nicht konstitutiv. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision will die Beklagte die Abweisung der Klage erreichen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Beklagte schuldet dem Kläger für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit vom 17. Februar bis zum 18. April 1997 keine weitere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Den gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch hat die Beklagte erfüllt. Ein weitergehender tariflicher Anspruch ist nicht gegeben.
I. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S 1476) wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie betrug nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung des § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG „80 v.H. des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”. Bestehende tarifliche Regelungen wurden durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612 S 2; Buchner NZA 1996, 1177, 1179 f.).
II. § 13 Abs. 2 RTV 1991 enthält keine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, so daß es für die in Rede stehende Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Klägers im Jahr 1997 bei der durch die seinerzeitige Gesetzesfassung vorgegebenen Entgeltfortzahlung in Höhe von lediglich 80 % verbleibt.
1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze über die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung. Diese folgen den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Anhaltspunkte wie die Tarifgeschichte, die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags und die praktische Tarifübung zurückgreifen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – BAGE 89, 95, 101 f.).
2. Für tarifliche Vorschriften, die auf geltende – ohnehin anwendbare – Vorschriften verweisen, hat der Senat entschieden, daß sie im Zweifel deklaratorisch sind. Mit einer Verweisung bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Auch bei derartigen Vorschriften ist es aber nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sich aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung ergibt. Aus einer Tarifregelung über Zuschüsse zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche kann aber bei Verweisung auf die gesetzlichen Bestimmungen nach der Rechtsprechung des Senats nicht auf eine eigenständige Tarifregelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Sechs-Wochen-Zeitraum geschlossen werden (BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – BAGE 89, 95, 107; BAG 10. Februar 1999 – 5 AZR 698/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Getränkeindustrie Nr. 1, zu III 3 b dd der Gründe).
3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze stellt § 13 Abs. 2 RTV 1991 keine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung dar. Die Vorschrift verweist auf die ohnehin anwendbaren gesetzlichen Vorschriften in ihrer jeweils geltenden Fassung. Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang – insoweit kommt nur § 13 Abs. 3 RTV 1991 in Betracht – ergibt sich ebenfalls kein Anhaltspunkt, um auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen zu können.
Die Tarifvertragsparteien haben bei Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag regelmäßig genaue Vorstellungen vom Inhalt der geltend gemachten gesetzlichen Norm, diese Vorstellung kann aber mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichgesetzt werden. Die Verweisung macht deutlich, daß kein eigenes Regelwerk geschaffen werden sollte, sondern daß es bereits ein Regelwerk gab, das ohnehin galt. Aus einer solchen Verweisung wird auch nicht dadurch nachträglich eine eigenständige Regelung, daß die Gesetze, auf die verwiesen wird, durch ein neues Gesetz ersetzt werden und die Tarifvertragsparteien ihre bisherige Verweisung unverändert lassen (BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – BAGE 89, 95, 105).
§ 13 Abs. 2 RTV 1991 kann auch nicht unter Berücksichtigung des Zwecks der Zuschußregelung als eigenständige Regelung angesehen werden. Diese Regelung soll länger beschäftigten Arbeitnehmern nach Ablauf des sechswöchigen Anspruchszeitraums eine eingeschränkte Absicherung für längerfristige Erkrankungen gewähren. Dieser Zweck wird zwar besser erreicht, wenn dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts zusteht. Allein daraus folgt aber bei Verweisungen wie der des § 13 Abs. 2 RTV 1991 nicht, daß die Vorschrift als statische Verweisung und eigenständige Regelung aufgefaßt werden kann. Deutlich wird vielmehr nur, daß sich die Tarifvertragsparteien bei Tarifabschluß eine gesetzliche Entgeltfortzahlung zu 100 % und deren Fortdauer vorgestellt, sie also auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung verhandelt haben. Gerade deshalb verlangten Sinn und Zweck der Zuschußregelung seinerzeit nicht nach einer statischen Verweisung auf das in Bezug genommene Gesetzesrecht.
Die Zuschußregelung ist mit der gesetzlichen Absenkung der Entgeltfortzahlung auf 80 % seit dem 1. Oktober 1996 nicht zu einer zweckentleerten und unvernünftigen Regelung geworden. Zum einen sieht auch § 4 Abs. 1 Satz 2 EFZG in der bis 31. Dezember 1998 geltenden Fassung bei unverschuldeten Betriebsunfällen weiterhin die volle Entgeltfortzahlung vor. Zum anderen ist es für den Arbeitnehmer von wirtschaftlichem Wert, wenn er in den ersten sechs Wochen seiner Arbeitsunfähigkeit nur 80 % seines regelmäßigen Arbeitsentgelts erhält und in den Wochen danach Gesamtleistungen etwa in Höhe seines vollen Nettogehalts (BAG 10. Februar 1999 – 5 AZR 698/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Getränkeindustrie Nr. 1, zu III 3 b dd der Gründe) oder – wie vorliegend – 90 % davon.
Unterschriften
Griebeling, Müller-Glöge, Kreft, Müller, Zorn
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 30.08.2000 durch Metze, Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 537495 |
BB 2000, 2368 |
NZA 2001, 519 |
SAE 2001, 198 |
AP, 0 |