Entscheidungsstichwort (Thema)
Tätigkeit freigestellter Betriebsratsmitglieder
Leitsatz (redaktionell)
Parallelsache zu 7 AZR 277/88
Normenkette
BetrVG § 37 Abs. 2, § 38 Abs. 1
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Urteil vom 30.05.1988; Aktenzeichen 2 Sa 87/87) |
ArbG Hamburg (Urteil vom 29.04.1987; Aktenzeichen 3 Ca 484/86) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 30. Mai 1988 – 2 Sa 87/87 – aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger die Lohnzahlung für den Zeitraum verweigern darf, in dem er als Zuhörer an zwei Verhandlungen vor dem Landesarbeitsgericht teilgenommen hatte.
Der Kläger ist freigestelltes Mitglied des im Hamburger Betrieb der Beklagten gebildeten Betriebsrates. Aufgrund eines Betriebsratsbeschlusses nahm der Kläger am 9. Juni und 4. August 1986 als Zuhörer an zwei Verhandlungsterminen in dem Kündigungsschutzprozeß eines langjährigen Arbeitnehmers der Beklagten vor dem Landesarbeitsgericht teil. Im Betrieb der Beklagten standen damals weitere Entlassungen langjähriger Mitarbeiter bevor.
Die Beklagte kürzte den Lohn des Klägers um 59,64 DM brutto (Lohn für drei Arbeitsstunden am 9. Juni 1986) sowie um weitere 91,85 DM brutto (Lohn für fünf Arbeitsstunden am 4. August 1986). Diese Beträge verlangt der Kläger mit der vorliegenden Klage; außerdem hat er im Wege der Klageerweiterung einen weiteren Betrag von 59,64 DM brutto geltend gemacht.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 151,49 DM brutto mit 4 % Zinsen darauf seit dem 4. Dezember 1986 sowie weitere 59,64 DM brutto nebst weiterer 4 % Zinsen seit dem 24. April 1987 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat im wesentlichen die Ansicht vertreten, bei der Teilnahme des Klägers an den Gerichtsverhandlungen habe es sich nicht um erforderliche Betriebsratstätigkeit gehandelt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich des Betrages von 151,49 DM brutto stattgegeben; hinsichtlich der Klageerweiterung hat es sie abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte den Antrag auf Abweisung der Klage weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht. Denn das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Würdigung, der Lohn des Klägers dürfe für die Zeit des Besuchs der zwei Gerichtsverhandlungen nicht gekürzt werden, zu Unrecht maßgeblich darauf abgestellt, daß es sich beim Kläger um ein gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG freigestelltes Betriebsratsmitglied handelt.
1. Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in seinem Urteil vom 19. Mai 1983 (BAGE 42, 405 = AP Nr. 44 zu § 37 BetrVG 1972) entschieden, daß es für den Anspruch eines Betriebsratsmitglieds auf Fortzahlung seines Arbeitsentgelts für die Zeit seiner Teilnahme als Zuhörer an einer Gerichtsverhandlung nicht darauf ankomme, ob das Betriebsratsmitglied gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt wurde oder nicht. Denn in beiden Fällen müsse es sich um erforderliche Betriebsratstätigkeit handeln; unterschiedliche Anforderungen an die Erforderlichkeit der Tätigkeit von freigestellten und nicht freigestellten Betriebsratsmitgliedern könnten aus § 38 BetrVG nicht hergeleitet werden.
2. Dieser Rechtsprechung ist das Landesarbeitsgericht bewußt nicht gefolgt. Es hat sich vielmehr der Ansicht von Weiss (Anm. zu AP Nr. 44 zu § 37 BetrVG 1972) angeschlossen, derzufolge bei § 38 BetrVG die Erforderlichkeit der Betriebsratstätigkeit keine Rolle spielen soll. Daher setze der Entgeltfortzahlungsanspruch bei § 38 Abs. 1 BetrVG neben der erfolgten Freistellung nicht noch zusätzlich die Verrichtung von erforderlicher Betriebsratsarbeit voraus, sondern könne nur ausnahmsweise entfallen, wenn das Betriebsratsmitglied seine Freistellung zweckwidrig mißbrauche bzw. wenn es Tätigkeiten nachgehe, die offensichtlich mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Betriebsrats nichts zu tun hätten. Zu den legitimen Aufgaben des freigestellten Betriebsratsmitglieds gehöre danach alles, was für die Erfüllung der Betriebsratstätigkeit geeignet sei bzw. damit in innerem Zusammenhang stehe.
3. Dieser vom Landesarbeitsgericht aufgegriffenen Argumentation vermag der Senat jedenfalls für solche Tätigkeiten, die ein gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG freigestelltes Betriebsratsmitglied außerhalb des Betriebes verrichtet, nicht beizutreten.
Aufgrund des § 38 Abs. 1 BetrVG ist das Betriebsratsmitglied nur von seiner beruflichen Tätigkeit, d.h. der Pflicht zur vertraglichen Arbeitsleistung, grundsätzlich aber nicht von seiner Verpflichtung freigestellt, während der vertraglichen Arbeitszeit im Betrieb anwesend zu sein und sich für dort anfallende Betriebsratstätigkeit bereitzuhalten. Der Freistellungsregelung des § 38 Abs. 1 BetrVG liegt die Vermutung des Gesetzgebers zugrunde, daß in Betrieben der dort genannten Größenordnung erforderliche Betriebsratstätigkeit im Sinne von § 37 Abs. 2 BetrVG regelmäßig in einem solchen Umfang anfällt, daß sie die Arbeitszeit eines oder mehrerer Betriebsratsmitglieder voll in Anspruch nimmt. Soweit ein gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG freigestelltes Betriebsratsmitglied innerhalb des Betriebes Betriebsratsarbeit verrichtet, ist daher grundsätzlich nicht zu prüfen, ob diese erforderlich ist. Anders verhält es sich jedoch bei Tätigkeiten außerhalb des Betriebs. Denn grundsätzlich muß auch das freigestellte Betriebsratsmitglied im Betrieb erreichbar sein und für erforderliche Betriebsratsarbeit zur Verfügung stehen, weil hierfür sonst weitere (nicht freigestellte) Betriebsratsmitglieder herangezogen werden müßten. Von dieser Anwesenheitspflicht ist daher auch das gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG freigestellte Betriebsratsmitglied nur entbunden, soweit seine Abwesenheit vom Betrieb zur Erfüllung der Aufgaben des Betriebsrats erforderlich ist. Insoweit besteht mithin kein Unterschied zu Betriebsratsmitgliedern, die nicht gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG freigestellt sind.
4. Das Landesarbeitsgericht wird daher im erneuten Berufungsverfahren zu prüfen haben, ob es sich bei der Teilnahme des Klägers an den zwei Gerichtsterminen um erforderliche Betriebsratstätigkeit handelte. Dabei wird das Landesarbeitsgericht einerseits die Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts im bereits angeführten Urteil vom 19. Mai 1983 zu beachten haben, daß die Teilnahme als Zuhörer an Gerichtsverhandlungen im allgemeinen wenig geeignet ist, für die Betriebsratsarbeit nützliche Erkenntnisse zu vermitteln. Andererseits wird jedoch zu berücksichtigen sein, daß im Entscheidungsfalle – im Gegensatz zu dem im angeführten Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 19. Mai 1983 entschiedenen Sachverhalt – nicht lediglich ein Kündigungsschutzverfahren verhandelt wurde, bei dem das Anhörungsverfahren des Betriebsrats bereits abgeschlossen war, sondern nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts weitere Kündigungen aufgrund vergleichbarer Kündigungsgründe zu erwarten waren. Jedenfalls aufgrund weiteren Sachvortrags, der im erneuten Berufungsverfahren wieder uneingeschränkt zulässig ist, könnte sich damit die Annahme des Landesarbeitsgerichts bestätigen, daß der Betriebsrat erwarten durfte, die in der Gerichtsverhandlung erworbenen Informationen zur Lösung konkret bevorstehender Konflikte einsetzen zu können. Insoweit erscheint es nicht ausgeschlossen, daß eine Sachlage gegeben sein könnte, in der ausnahmsweise auch die Teilnahme als Zuhörer an einer Gerichtsverhandlung als erforderliche Betriebsratstätigkeit anzusehen wäre.
Unterschriften
Dr. Seidensticker, Dr. Becker, Dr. Steckhan, Dr. Knapp, Dr. Klebe
Fundstellen