Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung
Leitsatz (amtlich)
Zur vorläufigen Vollstreckbarkeit einer erstinstanzlichen Gerichtsentscheidung, mit der ein höherer GdB und das Merkzeichen "aG" zuerkannt wurden.
Orientierungssatz
1. Im Rahmen der Aussetzungsentscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG muss eine Abwägung des Interesses des Vollstreckungsgläubigers an der Vollziehung gegenüber dem Interesse des Vollstreckungsschuldners daran, nicht vor endgültiger Klarstellung "leisten" zu müssen, unter Einbeziehung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels erfolgen (vgl. dazu BSG, 5. September 2001, B 3 KR 47/01 R). Das Ergebnis dieser Abwägung führt zur Ablehnung des Aussetzungsantrags oder zur Aussetzung der Vollstreckung, ein Ermessen des Gerichts besteht nicht.
2. Der Vollstreckungsschuldner muss darlegen und glaubhaft machen, dass ihm durch die Vollstreckung ein nicht zu ersetzender Nachteil entstehen würde, dass ihm also in der konkreten Vollstreckungssituation besondere Nachteile entstehen, d.h. solche, die nicht regelmäßig mit der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckbarkeit nicht rechtskräftiger Urteile der Sozialgerichte ohne Sicherheitsleistung einhergehen, wenn er vor rechtskräftigem Abschluss des Rechtsstreits leisten muss (vgl. LSG Berlin-Potsdam, 9. Oktober 2008, L 3 U 593/08 ER).
Tenor
I. Der Antrag, die Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid vom 24.08.2020 auszusetzen, wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat der Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens L 18 SB 160/20 ER zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten sind im Hauptsacheverfahren (Az. des Sozialgerichts Würzburg - SG - S 5 SB 382/19; Az. des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - L 18 SB 148/20) die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie des Merkzeichens aG streitig. Vorliegend geht es um die Vollstreckbarkeit eines dem klägerischen Begehren stattgebenden Gerichtsbescheids des SG.
Mit Bescheid vom 08.02.2018 hatte der Beklagte der Klägerin einen GdB von 50 zuerkannt. Die Zuerkennung eines höheren GdB und (unter anderem) des Merkzeichens aG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 07.08.2018 (Widerspruchsbescheid vom 07.12.2018) ab. Dagegen erhob die Klägerin Klage. Das SG holte auf der Grundlage des § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. (S) vom 15.06.2020 ein.
Mit Gerichtsbescheid vom 24.08.2020 verurteilte das SG den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 07.08. 2018 und 07.12.2018, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 100 ab Mai 2018 zu bewerten und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B und aG zuzuerkennen. Die Bewertung des gerichtsärztlichen Sachverständigen S, der die Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 100 bewertet habe, sei nicht zu beanstanden. Auch unter Berücksichtigung des für das SG im Klageverfahren S 6 R 411/16 erstellten Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. K. vom 07.11. 2017 sei die Einordnung der Erkrankung der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet als schwere Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 100 angemessen. Auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG lägen vor. S bestätige, dass die Klägerin aufgrund der psychogenen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sei. S komme zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in Abhängigkeit von ihrer Tagesform sich dauernd nur mit großer Anstrengung und regelmäßig auch nur mit fremder Hilfe außerhalb des Kfz bewegen könne und infolge ihrer Beeinträchtigungen nicht mehr in der Lage sei, Wegstrecken über 100 m ohne Rollstuhl zu bewältigen.
Dagegen legte der Beklagte Berufung zum LSG ein mit dem Antrag, den Gerichtsbescheid des SG insoweit aufzuheben, als eine Verurteilung zur Feststellung eines höheren GdB von 50 sowie zur Zuerkennung des Merkzeichens aG erfolgt sei. Die Verurteilung sei nicht haltbar. Bezüglich des klägerischen Restgehvermögens sei auf die Durchführung einer körperlichen Untersuchung verzichtet worden. Es sei auch keine Überprüfung der aktenkundigen Befunde auf ihre Schlüssigkeit hin erfolgt, obwohl beispielsweise im aktuellen Entlassungsbericht der geriatrischen Rehabilitationsklinik A-Stadt vom 21.02.2020 ein selbstständiges und sicheres Gehen ohne Hilfe von 100 m angegeben werde. Es würden keine manifesten Paresen und vor allem keine Muskelatrophien an den Beinen angegeben, was bei einer erheblichen Gangstörung jedoch zu erwarten wäre.
Ferner hat der Beklagte beantragt,
die Vollziehung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Würzburg vom 24.08.2020 bezüglich der Zuerkennung eines höheren GdB von 50 und des Merkzeichens aG auszusetzen.
Zur Begründung trägt der Beklagte vor, die Klägerin bestehe trotz entsprechenden Hinweises in der Berufungsbegründung des Beklagten auf vorläu...