Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Versäumung der Berufungsfrist. Fristlauf bei elektronischem Empfangsbekenntnis. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zustellung des Urteils an das besondere elektronische Anwaltspostfach. Kanzleiorganisation. Verwaltung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs durch Anwaltspersonal. fehlende korrespondierende Informationspflichten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für den Lauf der Berufungsfrist kommt es auf die tatsächliche Vorlage eines elektronisch zugestellten Dokuments durch die Kanzleiverwaltung an den bearbeitenden Rechtsanwalt nicht an.

2. Wenn in der Kanzleiorganisation auch Auszubildende berechtigt sind, das beA zu verwalten und ohne korrespondierende Informationspflichten an den Rechtsanwalt eEB zu versenden, ist die nicht ausreichende Schulung und Überwachung des Anwaltspersonals belegt.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 14.07.2022; Aktenzeichen B 3 KR 2/21 R)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 04.09.2019 wird als unzulässig verworfen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Streitig ist die Höhe von Krankengeld bei rückabgewickelten Altersteilzeitvertrag.

Mit Urteil vom 04.09.2019 hat das Sozialgericht Regensburg (SG) die Klage auf höheres Krankengeld ab dem 04.12.2017 abgewiesen.

Das Urteil ist dem bevollmächtigten Rechtsanwalt der Klägerin laut elektronischen Empfangsbekenntnis am 07.10.2019 zugestellt worden. Am 11.11.2019 hat dieser Berufung eingelegt und vorsorglich Wiedereinsetzung beantragt. Er hat vorgetragen, das elektronische Empfangsbekenntnis (eEB) sei von der Auszubildenden S (S) ohne Rücksprache mit dem bearbeitenden Anwalt und auch ohne sofortige Vorlage des Urteils an diesen abgesandt worden. Erst am 11.11.2019 sei es im Rahmen der Wiedervorlage vorgelegt worden. Das Zustellungsdatum sei der Zugang beim Rechtsanwalt, d.h. der 11.11.2019. Vorsorglich werde die Überprüfung nach § 44 SGB X bei der Beklagten beantragt.

Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 08.01.2020 darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung nach dem bisherigen Vortrag nicht erfolgsversprechend erscheine, da bei Übertragung von Fristsachen auf Hilfspersonen das Auswahl-, Überwachungs- und Organisationsverschulden des Anwalts ausgeschlossen sein müsse. Nach mehreren Fristverlängerungsanträgen hat der Senat mit Schreiben vom 20.04.2020 darauf zu einer Entscheidung nach § 158 SGG angehört.

Mit Schreiben vom 04.05.2020 hat die Klägerin die Berufung in der Sache begründet und zur Zulässigkeit vorgetragen, dass der allein zuständige Rechtsanwalt erst am 11.11.2019 von dem Urteil Kenntnis erlangt habe, und daher die Berufungsfrist erst zu diesem Zeitpunkt zu laufen begonnen habe. Für das eEB müssten dieselben Anforderungen gelten wie für ein Empfangsbekenntnis in Papierform. Letzteres könnte auch nicht von Hilfspersonen unterschrieben werden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 04.09.2019 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 08.08.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.11.2018 zu verurteilen, der Klägerin ab dem 04.12.2017 höheres Krankengeld nach näherer Maßgabe des SGB V unter Berücksichtigung des infolge der Rückabwicklung ihres Altersteilzeitarbeitsverhältnisses höheren Arbeitsentgelts zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Gegenstand der Entscheidungsfindung waren die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten. Auf diese wird ergänzend Bezug genommen.

II.

1. Der Senat konnte durch Beschluss gemäß § 158 S. 2 SGG entscheiden; einer mündlichen Verhandlung bedurfte es nicht. Die Beteiligten sind mit Schreiben des Senats vom 20.04.2019 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss angehört worden.

2. Die Berufung ist unzulässig, da sie nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt worden ist.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 04.09.2019 ist das Rechtsmittel der Berufung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung beim Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen, wobei die Berufungsfrist auch gewahrt ist, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird (§ 151 Abs. 2 SGG).

Das in der mündlichen Verhandlung vom 04.09.2019 verkündete und mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des SG ist dem Rechtsanwalt der Klägerin nachweislich des eEB am 07.10.2019 zugestellt worden. Die Monatsfrist zur Einlegung der Berufung hat damit am 07.11. 2019 (vgl. §§ 151 Abs. 1 und 2, 64 Abs. 1 und 2, Sätze 1 und 2 SGG) geendet, was zur Folge hat, dass die erst am 11.11.2019 eingegangene Berufung nicht mehr innerhalb der Berufungsfrist erhoben worden und daher als unzulässig zu ...

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