Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Krankenversicherung: Einstweiliger Rechtsschutz zur Versorgung mit Medizinal-Cannabis
Leitsatz (amtlich)
1. Der unbestimmte Rechtsbegriff der schwerwiegenden Erkrankung ist dem SGB V nicht fremd und entsprechend dem Ausnahmecharakter der Vorschrift dahingehend auszulegen, dass die Krankheit lebensbedrohlich sein muss oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.
2. Die begründete Einschätzung des verordnenden Arztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten darf sich nicht allein auf die positiven Erfahrungen des Versicherten aus der Selbsttherapie beschränken.
3. Für eine Erstgenehmigung einer Cannabis-Behandlung ist aus systematischen Gründen eine vertragsärztliche Verordnung erforderlich.
Nachgehend
Tenor
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 06.10.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ein Anspruch auf Kostenerstattung von Medizinal-Cannabisblüten für die Vergangenheit sowie auf künftige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten von monatlich 40 Gramm der Sorte Bedrocan.
Der Antragssteller, geb. 1984, ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Seit August 2020 bezieht er eine befristete Rente wegen Erwerbsminderung. Er ist schwerbehindert mit einem GdB von 50. Unter anderem leidet er an eine Arachnoidalzyste ohne neurochirurgischen Handlungsbedarf verbunden mit mentaler Leistungsminderung und körperlicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit bei chronifiziertem Kopfschmerzsyndrom und Schwindelzuständen.
Unter dem 25.04.2017, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 13.07.2018 bescheinigte Dr. G. aus R., der über keine Kassenzulassung verfügt, dass beim Antragsteller die Fortführung der Therapie mit cannabisbasierten Medikamenten unter legalen Bedingungen indiziert sei. Die bisherige medikamentöse Therapie sei unzureichend und/oder mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden gewesen. Der Antragsteller habe bereits positive Erfahrungen mit der Verwendung von Cannabis zur Selbstmedikation gemacht. Daher habe er - Dr. G. - ein Rezept ausgestellt. Am 17.07.2018 erschien der Antragsteller in der Geschäftsstelle der Antragsgegnerin in M. S. und legte dort ältere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor sowie einen selbstausgefüllten Arztfragebogen zur Cannabistherapie und Privatrechnungen aus den Jahren 2017 und 2018. Unter dem 20.07.2018 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Vorlage weiterer Dokumente auf, um den Antrag abschließend bearbeiten zu können.
Mit Bescheid vom 08.08.2018 lehnte die Antragsgegnerin die Erstattung der Kosten ab. Zur Begründung führte sie aus, dass vor der Inanspruchnahme von Cannabis eine Bewilligung der Krankenkasse erforderlich sei, diese liege jedoch nicht vor. Die Kosten für die Therapie mit cannabishaltigen Arzneimitteln könnten daher nicht erstattet werden.
Mit Schreiben vom 10.08.2018 machte die Antragsgegnerin den Antragsteller darauf aufmerksam, dass er zum 23.07.2018 bei der AOK Bayern abgemeldet worden sei und forderte ihn auf, zur Klärung des Versicherungsverhältnisses einen beigefügten Fragebogen auszufüllen. Unter dem 17.08.2018 lehnte die Antragsgegnerin die Versorgung mit cannabishaltigen Arzneimitteln erneut ab, nunmehr aufgrund des Umstandes, dass ab dem 24.07.2018 das Versicherungsverhältnis ungeklärt sei. Auf Erinnerungen zur Klärung des Versicherungsverhältnisses reagierte der Antragsteller nicht. Nachträglich zeigte sich, dass der Antragsteller ab 22.05.2018 arbeitsunfähig erkrankt war. Da AU-Bescheinigun- gen erst mit zeitlicher Verzögerung eingegangen waren, hatte die Antragsgegnerin ab dem 24.07.2018 bis 26.08.2018 kein Krankengeld gezahlt und auch die Mitgliedschaft beendet. Die Mitgliedschaftslücke wurde nachträglich durch Zahlung von Krankengeld geschlossen.
Seit 01.09.2019 bezieht der Antragsteller Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Mit Schreiben vom 12.12.2019 begehrte der Antragssteller erneut die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten und berief sich darauf, dass nach dem Ablauf der dreiwöchigen Frist am 03.08.2018 die Genehmigungsfiktion eingetreten sei.
Nach einer weiteren Bescheinigung von Dr. G. vom 02.01.2020 "zur Vorlage in einer familienrechtlichen Angelegenheit" leidet der Antragssteller an chronischen Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Daneben bestehe ein Wirbelsäulensyndrom.
Am 21.07.2020 hat der Antragsteller Untätigkeitsklage erhoben zum Sozialgericht München und zugleich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, mit dem er Kostenerstattung für Medizinal-Cannabisblüten sowie die künftige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten begehrt.
Der Antragssteller hat vier Privatverordnungen von Dr. G. über Medizinal-Cannabisblüte...