Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Entziehungsbescheid nach § 66 SGB 1. keine sofortige Vollziehbarkeit. Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Entziehungsbescheid nach § 66 SGB 1 wird von § 39 SGB 2 in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung nicht mehr erfasst. Widerspruch und Anfechtungsklage haben deshalb nach § 86a Abs 1 SGG automatisch aufschiebende Wirkung.
2. Beschlüsse des Sozialgerichts im einstweiligen Rechtsschutz entfalten formelle und materielle Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten bindende Entscheidung über eine vorläufige Regelung. Die Verwaltung ist daher gehindert, Verwaltungsakte zu vollziehen, die die Rechtskraft der vorangehenden Eilentscheidung unterlaufen.
Tenor
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird dahingehend abgeändert, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 festgestellt wird
II. Der Beschwerdeführer hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist eine Entziehung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Mitwirkung des Antragstellers nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) strittig.
Der 1964 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner bezieht seit Mitte 2006 Arbeitslosengeld II vom Antragsgegner.
Im Oktober 2011 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller eine Einladung zur Untersuchung beim psychologischen Dienst der Agentur für Arbeit an. Ein dagegen vom Antragsteller angestrengtes Eilverfahren (Az. S 16 AS 2822/11 ER) blieb erfolglos. Die Agentur für Arbeit bestellte den Antragsteller Ende Oktober 2011 zu psychologischen Untersuchung am 04.11.2011 ein. Der Antragsteller nahm den Termin nicht wahr.
Am 21.11.2011 beantragte der Antragsteller Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts "nach dem Grundgesetz". Die Vorschriften des SGB II seien verfassungswidrig. Mit Bescheid vom 05.12.2011 (S. 1223 der Verwaltungsakte) lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung von Leistungen ab. Es bestehe lediglich eine sachliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB II, nicht für Leistungen direkt nach dem Grundgesetz.
Der Antragsteller legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein und beantragte gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht München. Mit Beschluss vom 12.01.2012 (Az. S 16 AS 3250/11 ER) verpflichtete das Sozialgericht München den Antragsgegner für Januar 2012 vorläufig 777,60 Euro zu gewähren sowie für die Monate Februar bis Juni 2012 jeweils 814,- Euro. Zur Umsetzung dieses Beschlusses verfügte der Antragsgegner den Bescheid vom 23.01.2012 (S. 1264). Er bewilligte darin "aufgrund vorliegenden Beschluss des Sozialgerichts München" Leistungen gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der vom Sozialgerichts verfügten Höhe zuzüglich 10,- Euro monatlich infolge der Erhöhung des Regelbedarfs.
Mit Bescheid vom 02.02.2012 (S. 1289) entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die bewilligten Leistungen ab 01.03.2012 vollständig gemäß §§ 62, 66 SGB I. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass aufgrund seiner wiederholten schriftlichen Äußerungen bzw. Verunglimpfungen Zweifel an seiner Erwerbsfähigkeit bestünden. Der Antragsteller sei trotz Rechtsfolgenbelehrung der Einladung zu Untersuchung zum psychologischen Dienst nicht gefolgt.
Der Antragsteller legte gegen den Einziehungsbescheid am 14.02.2012 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Ebenfalls am 14.02.2012 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 29.02.2012 ordnete das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Einziehungsbescheid an. Der Einziehungsbescheid falle unter § 39 Nr. 1 SGB II und sei deshalb sofort vollziehbar. Es bestünden jedoch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids. Es handele sich um einen Verstoß gegen eine Meldepflicht nach § 59 II i.V.m. § 309 SGB III, der lediglich nach § 32 SGB II zu sanktionieren sei, nicht aber nach § 66 SGB I.
Der Antragsgegner hat am 09.03.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Bei einer Einziehung nach § 66 SGB I und einer Sanktion nach § 32 SGB II handle es sich um zwei verschiedene Verfahrensarten, die nebeneinander stünden. Eine Sanktion nach § 32 SGB II diene der Arbeitsvermittlung und unterscheidet sich hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgen von einem Verfahren nach §§ 60 ff SGB I, das der Prüfung der Leistungsberechtigung diene.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29.02.2012 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 abzulehnen.
Der Antragsteller...