Entscheidungsstichwort (Thema)
Multiple Sklerose. Immunglobuline. Arzneimittel. Zulassung. Off-Label-Use. Krankheitsschub. Notstandsähnliche Situation. Einstweilige Anordnung. Vorwegnahme der Hauptsache. Folgenabwägung
Leitsatz (redaktionell)
Droht dem Versicherten der unwiederbringliche Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion, muss das Gericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund einer Folgenabwägung entscheiden, wenn es die Sach- und Rechtslage nicht abschließend prüfen kann.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2, Art. 19 Abs. 4; SGB V § 27 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1, 3, § 31 Abs. 1 S. 1; SGG § 86b Abs. 2
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 12.08.2008 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin deren notwendige außergerichtlichen Kosten auch der Beschwerde.
Gründe
I.
Streitig ist, ob die Antragsgegnerin im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zur Behandlung einer Multiple-Sklerose-Erkrankung (MS) mit Immunglobulinen zu verpflichten ist.
1. Die 1958 geborene und bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Klägerin leidet an MS, die erstmals 1985 diagnostiziert wurde. Nach Angaben des behandelnden Neurologen Dr. A. seien Behandlungen mit Glatirameracetat (1994) und mit Betaferon (1996) wegen Unverträglichkeit abgebrochen worden. Im Rahmen der medizinischen Fachbehandlung durch die M.-Klinik, Behandlungszentrum K. für Multiple Sklerose Kranke GmbH, habe sie seit September 2000 eine monatlich intravenös verabreichte Basisbehandlung mit Immunglobulin (IVIG) erhalten und das Krankheitsbild habe sich dadurch deutlich stabilisiert. Nur 2002 und 2003 hätten sich zwei kleinere Schübe mit nach kurzer Zeit voll remittierter Symptomatik ergeben. Im April 2005 sei die IVIG-Behandlung wegen ungeklärter Rechtslage der Kostenträgerschaft unterbrochen worden, worauf im Juni 2005 ein schwerer MS-Schub mit Verlust der Gehfähigkeit, enormen Koordinationsstörungen (Ataxie), Doppelbilder-Sehen und Hörstörung aufgetreten sei. Ab Juli 2007 habe die Antragstellerin die IVIG-Therapie wieder aufgenommen, unter welcher Schubfreiheit eingetreten sei.
2. Seit Dezember 2007 übernahm die Antragstellerin die Kosten der IVIG-Behandlung selbst, weil die Antragsgegnerin die Übernahme der Behandlung ablehnte. Gegen die entsprechenden Ablehnungsbescheide vom 15.11.2007, 26.02.2008 und 31.03.2008 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2008 hat die Antragstellerin Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und am 02.07.2008 den gegenständlichen Antrag gestellt, sie im Wege einstweiligen Rechtsschutzes von den Kosten der IVIG-Behandlung freizustellen. Sie hat unter Bezugnahme auf ein neurologisches Attest des Dr. A. vom 11.06.2008 und ärztliche Stellungnahmen des Neurologen Prof. Dr. F. vom 16.06.2008 sowie 29.11.2007 und 21.09.2007 geltend gemacht, aus dem Krankheitsverlauf und den bisherigen Behandlungen ergebe sich, dass sie die medikamentöse Behandlung nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft insbesondere mit Betaferon und Glatirameracetat nicht vertrage. Hingegen zeige die IVIG-Behandlung gute Erfolge, habe zur Schubfreiheit geführt und werde gut vertragen. Es bestünden somit keine Alternativen zur streitigen Therapie. Werde die IVIG-Behandlung abgesetzt, drohe konkret ein akuter Schub mit Verlust der Gehfähigkeit und weiteren Beeinträchtigungen. Wirtschaftlich sei sie als Bezieherin von Versorgungsbezügen des Arbeitgebers und einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie wegen Vermögenslosigkeit nicht in der Lage, die monatlichen Kosten der IVIG in Höhe von 867,14 EUR zu tragen.
Die Antragsgegnerin hat erwidert, wie sich aus ihren Entscheidungen im Verwaltungsverfahren ergebe, bestehe bereits kein Anordnungsanspruch, weil das für die Behandlung der MS nicht zugelassene Immunglobulin keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen sei. Zudem ergebe sich aus den Stellungnahmen des MDK, dass alternative Behandlungsmethoden nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft vorhanden seien.
Erwidernd hat der behandelnde Neurologe Prof. Dr. Dr. F. unter dem 24.07.2008 ausgeführt, dass die vom MDK angegebene alternative Medikament Azathioprin als immunsuppressives Medikament erhebliche Nebenwirkungen habe, die der Antragstellerin nicht zumutbar seien und die sie nicht vertrage. Die Umstellung auf Azathioprin benötige im Übrigen mehrere Monate bis zur eventuellen Wirksamkeit, so dass bis dahin schwere MS-Schübe akut zu befürchten seien.
Demgegenüber hat der MDK in einer Stellungnahme vom 04.08.2008 darauf hingewiesen, dass Azathioprin ein zur Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin zugelassenes Arzneimittel sei, ebenso wie Tysabri mit dem Wirkstoff Natalizumab. Die zulassungsübergreifende Anwendung von Immunglobulinen bei MS berate im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses seit November 2005 eine Expertengruppe im Bundesinstitut für Arzneimittel, die Stellungnahme stehe noch aus. Nach derzeitiger Studienlage sei ein Konsens für den zulas...