Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde
Leitsatz (amtlich)
1. Das Sozialgerichtsgesetz sieht den Rechtsbehelf einer Untätigkeitsbeschwerde nicht vor.
2. Ein gesetzlich nicht vorgesehener Rechtsbehelf kann nicht im Wege der richterrechtlichen Rechtsfortbildung geschafft werden.
3. Das am 3.12.2011 in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (BGBl I, 2011, S 2302) hat an dieser Rechtslage nichts geändert.
Tenor
I. Die Beschwerde des Klägers gegen die behauptete Untätigkeit des Sozialgerichts München wird als unzulässig verworfen.
II. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beschwerde bezieht sich auf ein am Sozialgericht München anhängiges Klageverfahren in einer Schwerbehindertenangelegenheit (S 2 SB 1089/10).
Der Kläger und Beschwerdeführer erhielt auf seinen am 17.08.2009 gestellten Antrag, den Grad der Behinderung (GdB) festzustellen, den Teil-Bescheid vom 26.01.2010 (GdB von 50) und später den endgültigen Bescheid vom 22.07.2010 (GdB 70).
Der gegen den Bescheid vom 26.01.2010 am 27.07.2010 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2010 als verspätet und deshalb unzulässig zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die am 05.10.2010 zum Sozialgericht München erhobene Klage mit dem Aktenzeichen S 2 SB 1089/10. Der gegen den Bescheid vom 22.07.2010 am 19.08.2010 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2010 zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Klage vom 03.11.2010 (S 2 SB 1187/10).
Mit Beschluss des Sozialgerichts München vom 08.10.2010 wurden die Verfahren S 2 SB 1089/10 und S 2 SB 1187/10 ausgesetzt, um dem Beklagten Gelegenheit zur Durchführung eines Antragsverfahrens zu geben. Die dagegen erhobene Beschwerde verwarf das Bayer. Landessozialgericht mit Beschluss vom 11.02.2011 als unzulässig.
Mit einem beim Sozialgericht München am 14.12.2011 eingegangenen Schriftsatz hat der Kläger "außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde" eingelegt und beantragt, dem Sozialgericht München unter Fristsetzung aufzugeben, dem Verfahren Fortgang zu geben und den Abschluss des Rechtsstreits zu fördern. Gleichzeitig hat er gemäß § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) Verzögerungsrüge erhoben. Zur Begründung hat er vorgebracht, dass die Verzögerungsrüge gemäß §198 GVG in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren lediglich der Durchführung eines Entschädigungsverfahrens diene und deswegen die zusätzlichen Rechtsbehelfe, insbesondere die Untätigkeitsbeschwerde, nach wie vor zur Anwendung kommen würden. Es sei anerkannt, dass zur Durchsetzung des Justizgewährleistungsanspruchs die außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde eingelegt werden könne.
Die dem Beschwerdegericht übermittelte Beschwerdeschrift ist beim Bayer. Landessozialgericht am 20.12.2011 eingegangen. Gegenüber dem Kläger hat das Sozialgericht München den Eingang der Verzögerungsrüge bestätigt.
Dem Senat liegen die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts München (S 2 SB 1089/10; S 2 SB 1187/10) vor. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten und der Beschwerdeakten (L 16 SB 282/11 B; L 16 SB 283/11 B) Bezug genommen.
II.
Die Untätigkeitsbeschwerde ist gemäß § 202 SGG i.V.m. § 572 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht statthaft ist.
Die vom Kläger eingelegte "außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde" ist mangels einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts München nicht statthaft. Eine Entscheidung, die gemäß §§ 172 ff. SGG mit der Beschwerde anfechtbar wäre, hat das Sozialgericht München nicht getroffen. Die Untätigkeit eines Sozialgerichts kann nicht Gegenstand einer Beschwerde sein. Gemäß § 172 Abs. 1 SGG findet die Beschwerde gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte an das Landessozialgericht statt, soweit im Sozialgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt ist.
Das vom Kläger reklamierte Beschwerderecht sieht das Sozialgerichtsgesetz nicht vor. Entgegen seiner Darstellung ist die Existenz eines Rechtsbehelfs der (außerordentlichen) Untätigkeitsbeschwerde gerade nicht anerkannt. Nach herrschender und aus Sicht des Senats richtiger Auffassung kann ein gesetzlich nicht vorgesehener Rechtsbehelf nicht im Wege der richterrechtlichen Rechtsfortbildung geschaffen werden. Es wäre mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht vereinbar, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen würden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im Rechtsschutzsystem zu schließen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.01.2007, 1 BvR 2803/06; BSG, Beschluss vom 06.02.2008, B 6 KA 61/07 B; vom 28.02.2008, B 7 AL 109/07 B; Bayer. LSG, Beschluss vom 07.03.2011, L 11 AS 107/11 B; vom 1...