Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. fehlende indikationsbezogene Zulassung eines Fertigarzneimittels (hier: Fertigarzneimittel Avastin bei beabsichtigter Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms). kein Anspruch auf Off-Label-Use. fehlende Aussicht auf Zulassungserweiterung für die fragliche Indikation. Fehlen einer therapeutisch sinnvollen Alternative. ausnahmsweise Versorgung mit dem Fertigarzneimittel bei notstandsähnlicher Lage infolge lebensbedrohlicher Erkrankung. Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wegen besonderer Dringlichkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms mit dem Fertigarzneimittel Avastin kann mangels indikationsbezogener Zulassung grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verlangt werden.
2. Es besteht nach Einschätzung des Senats im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kein Anspruch auf Versorgung mit Avastin im Rahmen eines sog Off-Label-Use.
3. Die Ergebnisse der im November 2017 veröffentlichten Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms lassen nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird.
4. Zum Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation bei grundrechtsorientierter Auslegung im Falle des Antragstellers bei begleitenden, rezidivierenden Zystenbildungen im Gehirn.
Tenor
1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 23. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller und Beschwerdegegner (im Folgenden Antragsteller) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab (Handelsname Avastin) zur Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms.
Bei dem 1968 geborenen Antragsteller wurde am 16.03.2018 ein bösartiger Hirntumor vom Typ Glioblastoma multiforme, WHO Grad IV, IDH Wildtyp (ICD-10: C 71.3) diagnostiziert. Nach Tumorresektion am 19.03.2018 erfolgte eine adjuvante kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid sowie eine adjuvante Chemotherapie mit Temozolomid. Nach Auftreten eines ersten Rezidivs wurde am 28.11.2018 erneut eine Tumorresektion durchgeführt mit nachfolgender Chemotherapie mit CCNU und Procarbazin, Rezidivstrahlentherapie und Therapie mit Regorafenib.
Am 20.05.2020 beantragte das Universitätsklinikum R-Stadt (im Folgenden: Uni-Klinikum) die Kostenübernahme für einen individuellen Heilmittelversuch mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Bevacizumab im Off Label Use.
Beim Antragsteller bestehe aktuell ein erneuter Tumorprogress (MRT-Aufnahmen vom 16.03.2020 und 14.05.2020). Laut Fallkonferenz vom 19.05.2020 sei eine erneute Rezidivresektion oder Strahlentherapie nicht indiziert. Die Standard-Chemotherapie sei ausgereizt. Es bleibe als einzige mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 % wirksame Behandlung eine antiangiogene Therapie mit Bevacizumab. Beim Antragsteller lägen keine spezifizierbaren Risiken für Nebenwirkungen von Bevacizumab vor.
Die im Jahr 2014 veröffentliche BELOB-Studie habe eine gute Wirksamkeit von Bevacizumab in Kombination mit Lomustin gezeigt. Die Kombinationstherapie sei in der Zulassungsstudie EORTC 26101 erneut untersucht worden (Wick et al., Neuro-Oncology 2015). Hier sei das primäre Studienziel einer Verbesserung des Gesamtlebens zwar verfehlt worden, es sei jedoch zu einer deutlichen Verbesserung des progressionsfreien Überlebens von 1,5 auf 4,2 Monate gekommen. Dies bedeute eine Halbierung des Progressionsrisikos bei mit Bevacizumab behandelten Patienten im Vergleich zu nur mit Lomustin behandelten Patienten. Auffällige Nebenwirkungen seien nicht aufgetreten. Die Lebensqualität sei in beiden Behandlungsarmen vergleichbar gewesen.
Es sei ein streng kontrollierter Therapieversuch über zunächst acht Wochen geplant. Die Kosten hierfür beliefen sich etwa auf 6.000 Euro pro Monat.
Die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 25.05.2020 ab. Der Hersteller habe den Antrag auf Zulassungserweiterung von Bevacizumab für diese Indikation auf Grund einer negativen Stellungnahme der europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency - EMA) zurückgezogen. Dies komme einer Ablehnung gleich. Somit bestehe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies gelte auch für eine Off-Label-Use-Anwendung. Auch verfassungsrechtlich sowie nach § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch (SGB V) bestehe bei dieser Konstellation kein Spielraum für eine positive Einzelfallentscheidung.
Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch und legte eine Beurteilung des Zentrums für Hirntumoren des Uni-Klinikums vom 30.06.2020 vor. Danach verursache die Ödemflüssigkeit beim Antragsteller immer wieder flüssigkeitsgefüllte Zysten. Die Gabe von Bevacizumab stelle die einzig sinnvolle therapeutische Möglichkeit ...