Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Geltendmachung einer Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung als Beitragsschätzbescheid. Personenbezogene Beitragsnachforderung. Unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand. Verletzung der Aufzeichnungspflicht. Anspruch auf Sozialleistungen. Anordnung der aufschiebenden Wirkung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Den personenbezogen geleisteten Sozialversicherungsbeiträgen stehen konkrete Ansprüche der Versicherten gegenüber, der Anspruch und die Höhe von Arbeitslosengeld hängt von dem vorangegangenen Versicherungspflichtverhältnis und vom erzielten Entgelt ab, das Krankengeld errechnet sich aus dem erzielten Entgelt, die Höhe einer späteren Rente aus Beitragszeiten hängt von den gezahlten Beiträgen ab.

2. Wenn aber Beitragsnachforderungen den Betroffenen nicht zugeordnet werden, können zu deren Gunsten auch keine Leistungsansprüche erwachsen; deshalb dürfen Beitragsschätzbescheide nur unter engen Voraussetzungen ergehen.

 

Normenkette

SGB IV § 28f Abs. 2; SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2; SGB X § 20; SGB III §§ 147, 149; SGB V § 47; SGB VI § 55

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 4. November 2013 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6.5.2013 angeordnet.

II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

III. Der Streitwert wird auf 49.924,86 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist im einstweiligen Rechtsschutz streitig die Befristung der von der Antragsgegnerin erklärten Aussetzung der Vollziehung bis zum 31.12.2013 sowie die damit verbundene Auflage, die mit Bescheid vom 6.5.2013 festgesetzte Beitragsforderung mit vier von Hundert zu verzinsen.

Gegenstand des von der Antragstellerin in der Rechtsform einer GmbH betriebenen Unternehmens ist das Personalmanagement im weitesten Sinne. Im Handelsregister B des Amtsgerichts A-Stadt (HRB 6009) sind dazu im Einzelnen angegeben: "Organisation und Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen im Personalbereich, Erstellung von Tests, Unterweisungen im Bereich Arbeitsanweisungen und -sicherheit, Produktion von entsprechenden Videos, Ausarbeitung und Durchführung von Lohn-, Personalplanungs- und Verwaltungssystemen, Ausführung von Werkverträgen, Arbeitnehmerüberlassung im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nach Erhalt der vorgeschriebenen Erlaubnisurkunde sowie Vermittlung von Arbeitskräften, nach Erlangung der entsprechenden Erlaubnis." Die Antragstellerin verfügt über die Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Überlassung von Arbeitnehmern. Die Antragstellerin hatte mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) Haustarifverträge abgeschlossen und die darin festgelegten Vergütungen als Verleiherin gezahlt. Auf dieser Bemessungsgrundlage wurden Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.

Bei der Antragstellerin fand in der Zeit vom 12.3.2013 bis zum 4.4.2013 eine Betriebsprüfung statt. Mit Bescheid vom 6.5.2013 forderte die Antragsgegnerin für den Prüfzeitraum 1.12.2005 bis 31.12.2009 Beiträge zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 149.774,58 Euro nach. Die Beiträge wurden festgesetzt für in den Akten der Antragsgegnerin namentlich genannte Arbeitnehmer, die im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung für die Antragstellerin als Verleiherin tätig waren. Es handelte sich überwiegend um Helfertätigkeiten, vereinzelt auch Tätigkeiten von Facharbeitern. Die Antragsgegnerin begründete ihre Entscheidung mit einem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 14.12.2010 (1 ABR 19/10). Darin wurde die Feststellung der Vorinstanzen bestätigt, wonach die CGZP nicht tariffähig ist. Als letzte Tatsacheninstanz hatte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mit Datum vom 7.12.2009 entschieden (23 TaBV 1016/09). Die Antragsgegnerin führte weiter aus, die Tarifunfähigkeit der CGZP habe die Unwirksamkeit der mit dieser geschlossenen Tarifverträge zur Folge. Wegen der Unwirksamkeit der von der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge gelte keine Ausnahme mehr von dem Grundsatz des "equal-pay" (gleicher Lohn für gleiche Arbeit). Die Leiharbeitnehmer, die auf der Basis eines solchen Tarifvertrages tätig waren, könnten von der Antragstellerin den Lohn beanspruchen, der im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer gezahlt wurde. Im Beitragsrecht der Sozialversicherung gelte das Entstehungsprinzip. Die Antragsgegnerin berechnete die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge neu auf der Grundlage den zur Ermittlung von Vergleichlöhnen eingeholten Auskünften der Entleiherbetriebe sowie den dort anwendbaren Tarifverträgen und anhand von Lohnunterlagen der Leiharbeitnehmer. Dabei schätzte die Antragsgegnerin die Höhe der Arbeitsentgelte anhand einer durchschnittlich berechneten Lohndifferenz zwischen Leiharbeitnehmern und vergleichbaren Stammarbeitnehmern in den Entleihbetrieben von 24 % bzw. 27% und setzte die Nachforderungen jeweils i...

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