Entscheidungsstichwort (Thema)

Erziehungsrente. Nichteheliches Kind. Ungleichbehandlung. Mittelbare Schlechterstellung. Unterhalt. Nacheheliche Solidarität. Erbenhaftung. Halbwaisenrente. Erziehungsperson. Allgemeiner Gleichheitssatz. Entscheidungserheblichkeit. Verfassungskonforme Auslegung. Wortlaut. Subjektives Recht

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 47 Abs. 1 SGV VI in der Fassung von Artikel 1 Nr. 15 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2004 (BGBl I, S. 554) verletzt Art. 6 Abs. 5 GG, indem die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils keinen Anspruch auf eine Erziehungsrente auszulösen vermag (Anknüpfung an BVerfGE 118, 45).

2. Dieser Umstand verletzt die Personen, die nach dem Tod des anderen Elternteils das gemeinsame nichteheliche Kind erzieht, in Art. 3 Abs. 1 GG.

3. Dieser Umstand verletzt weiter das gemeinsame nichteheliche Kind der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils dadurch in Art. 3 Abs. 1 GG, dass seine Erziehung keinen Anspruch auf eine Erziehungsrente auszulösen vermag, die Erziehung nicht gemeinsamer Kinder aber unter Umständen schon.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, 5, Art. 100 Abs. 1; SGB VI § 47 Abs. 1; BGB §§ 1570, 1576, 1586b, 1615l

 

Tenor

Das Verfahren wird gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes ausgesetzt. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

Ist § 47 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Sechstes Buch in der Fassung von Artikel 1 Nr. 15 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2004 (BGBl I, S. 554) insoweit mit

Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente genügen lässt,

Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente ausreichen lässt, andererseits aber die Erziehung nicht gemeinsamer Kinder dafür genügen kann,

Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente genügen lässt, die Erziehung gemeinsamer ehelicher dagegen schon?

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung einer Erziehungsrente nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Die 38-jährige Klägerin hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Sie war nie verheiratet. Zwei der Kinder sind minderjährig und leben bei ihr. Dabei handelt es sich um die 1996 geborene Tochter A. und den 2007 geborenen Sohn J. (im Folgenden: J). Das älteste Kind, ein 1989 geborener Sohn, besitzt einen eigenen Hausstand. Der Vater von J, M. F. (im Folgenden: F), ist am 25.05.2008 verstorben. Zu ihm stand die Klägerin bis zu dessen Tod in einer Beziehung, die von ihr als "feste Partnerschaft" bezeichnet wird. Von Juni 2007 an lebte F in einer eigenen Wohnung im selben Haus wie die Klägerin und die beiden Kinder. Allerdings verbrachte er sehr viel Zeit in deren Wohnung, was die Klägerin als "richtige Familie" empfand. Außer einer kleinen Rente hatte F kein Einkommen. Unterhalt für J zahlte er nicht, beteiligte sich nach Schilderung der Klägerin aber finanziell an den Einkäufen und machte seinem Sohn ab und an kleine Geschenke.

Die Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie begann 1987 eine Lehre zur Bürogehilfin, die sie wieder abbrach. Den Lebensunterhalt für sich und ihre minderjährigen Kinder bestreitet die Klägerin aus Einkünften aus einer geringfügigen Beschäftigung, aus einer Halbwaisenrente für J, aus dem Kindesunterhalt, den der Vater von A. leistet, sowie aus Kindergeld für beide Kinder. Des weiteren erhält sie ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch.

Am 19.06.2008 beantragte die Klägerin eine Erziehungsrente wegen Erziehung des J nach dem Tod von F. Mit Bescheid vom 14.07.2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil die Klägerin mit F nie verheiratet war. Den dagegen eingelegten Widerspruch (Schreiben vom 04.08.2008) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2008 als unbegründet zurück.

Mit Schriftsatz vom 26.09.2008 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Augsburg. Dieses wies die Klage mit Urteil vom 12.02.2009 ab. Die Nichtgleichstellung von Ehe und eheähnlicher Gemeinschaft, so das Sozialgericht zur Begründung, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verfassungsgemäß. Das gelte auch im Rahmen von § 47 SGB VI. Auch sei die Situation der Klägerin nicht vergleichbar mit der derjenigen Personen, die durch § 47 SGB VI begünstigt würden. Denn die Klägerin hätte vor dem Ableben des F die Lebensgemeinschaft mit diesem nicht aufgehoben gehabt.

Dagegen richte...

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