Entscheidungsstichwort (Thema)

Impfschadensrecht: Beweismaßstab für den Nachweis des Primärschadens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d. h. die Impfkomplikation, muss neben der Impfung und dem Impfschaden, d. h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein.

2. Eine Beweiserleichterung beim Primärschaden im Sinne der Beurteilung "des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe" anhand von "Mosaiksteinen" ist damit nicht vereinbar.

3. Ursachenzusammenhang bei Progredienz einer Hörstörung und connataler Infektion.

 

Normenkette

IfSG § 2 Nr. 11, § 60 Abs. 1 S. 1, § 61 Sätze 1-3; BVG § 31; SGB X § 44

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 4. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin gegenüber dem Beklagten Anspruch auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) aufgrund durchgeführter Impfungen hat.

Die Klägerin und Berufungsklägerin (Klägerin) ist 1982 geboren. Bei ihr bestehen eine Taubheit beidseits und ein nicht kompensierter Labyrinthausfall beidseits. Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt.

Am 20.11.2007 beantragte die Klägerin gegenüber dem Beklagten und Berufungsbeklagten (Beklagter) unter Bezugnahme auf ihren Impfausweis wegen Gehörlosigkeit die Gewährung von Versorgung nach dem IfSG. Die Klägerin trug vor, durch Quecksilber, welches den Impfstoffen beigefügt gewesen sei, vergiftet worden zu sein und dadurch die fortbestehende Hörschädigung davon getragen zu haben. Dem Antrag waren eine Kopie des Impfausweises sowie Befundberichte (insbesondere von H. Kinderspital - Kinderklinik der Universität A-Stadt - Pädiatrische Ambulanz) beigefügt. Laut Impfausweis erhielt die Klägerin am 13.06.1983, 03.11.1983, 30.05.1985, 02.07.1985 und am 28.10.1997 Impfungen gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis), ferner am 13.06.1983, 03.11.1983 und 30.05.1985 Impfungen gegen Diphterie und Tetanus und am 17.02.1992 eine Impfung gegen Tetanus. Eine Impfung gegen Masern wurde am 20.06.1986 durchgeführt. Am 15.06.2001, 19.07.2001 und 26.05.2006 erhielt die Klägerin Impfungen gegen Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME-Impfung).

Der Beklagte lehnte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme den Antrag auf Versorgung nach dem IfSG mit Bescheid vom 16.02.2009 ab. Zum einen könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den im Antrag angegebenen FSME-Impfungen und der geltend gemachten Gesundheitsstörung "Gehörlosigkeit" nicht anerkannt werden. Nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen sei die Gehörlosigkeit mit Wahrscheinlichkeit als Folge einer Schädigung nach Frühgeburtlichkeit aufzufassen und keinesfalls in Zusammenhang zu bringen mit den FSME-Impfungen aus den Jahren 2001 und 2006. Zum anderen entbehre die geltend gemachte "Quecksilbervergiftung" mit der Folge einer Hörschädigung jeglicher nachvollziehbarer Kausalität. Bei Kleinkindern falle der Zeitpunkt der ersten Impfungen mit der Epoche zusammen, in der Eltern gewöhnlich eine Schwerhörigkeit oder Taubheit ihres Kindes erstmals bemerken würden. Zwischen den angeführten Impfungen und dem Auftreten bzw. Bemerken der Gehörlosigkeit durch die Eltern liege lediglich und allein ein zeitlicher Zusammenhang vor. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der geltend gemachten Gesundheitsstörung "Gehörlosigkeit" und den Impfungen gegen Kinderlähmung (Polio-Schluckimpfungen), den Impfungen gegen Wundstarrkrampf (Tetanus-Impfungen) und Diphterie sowie der Impfung vom 20.06.1986 gegen Masern lasse sich ebenfalls nicht feststellen, weil es sich nach versorgungsärztlicher Einschätzung mit Wahrscheinlichkeit um eine Schädigung nach Frühgeburtlichkeit handele.

Mit Schreiben vom 20.04.2009 beantragte die Klägerin durch ihren damaligen Bevollmächtigten die Überprüfung des Bescheides vom 16.02.2009. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar, dass die Schädigung der Klägerin auf eine Frühgeburtlichkeit zurückzuführen sei. Es hätten keine diesbezüglichen Untersuchungen stattgefunden. Bis zum Zeitpunkt der Impfungen habe die Klägerin auf Geräusche reagiert. Es sei völlig unklar, welche medizinischen Feststellungen zur Entscheidungsfindung herangezogen worden seien.

Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 26.10.2009 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 16.02.2009 seien nicht erfüllt. Die von der Klägerin vorgetragenen Gründe ließen nach versorgungsärztlicher Überprüfung einen ursächlichen Zusammenhang der Gehörlosigkeit mit den Impfungen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit herstellen.

Im Rahmen des dagegen geführten Widerspruchsverfahrens trug der damalige ...

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