Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteil von grundsätzlicher Bedeutung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Maßnahmen der Frühförderung für mehrfach schwerstbehinderte Kinder stellen per se regelmäßig keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 BayBlindG dar.

2. Allein die Durchführung von Maßnahmen der Frühförderung für mehrfach schwerstbehinderte Kinder rechtfertigt nicht die Annahme, dass für die Betroffenen blindheitsbedingte Mehraufwendungen bestehen.

 

Normenkette

BayBlindG Art. 1 Abs. 1, 2 Sätze 1, 2 Nr. 2, Abs. 3, Art. 4 Abs. 3, Art. 7 Abs. 3; BSHG § 67 Abs. 1

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 13.07.2022; Aktenzeichen B 9 BL 1/22 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 09.04.2020 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 06.10.2017 in der Fassung des Bescheids vom 28.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.02.2019 abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitgegenstand ist die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Die 2015 geborene Klägerin leidet am Pallister-Killian-Syndrom. Für die Klägerin wurden ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, aG, B, H und RF festgestellt; wobei für die hochgradige Sehbehinderung und für die syndromale Erkrankung jeweils ein Einzel-GdB von 100 vergeben worden ist.

Die Klägerin beantragte am 31.08.2016 beim Beklagten die Gewährung von Blindengeld. Der Beklagte zog einen Entwicklungsbericht des Blindeninstituts B vom Oktober 2016 bei. Hiernach waren bei der Klägerin im abgedunkelten Raum tagesformabhängig Hinwendereaktionen zu einem visuellen Reiz erkennbar, im tageslichthellen Raum dagegen nicht. Nach dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll des Blindeninstituts vom Oktober 2016 zeigte sich auch im abgedunkelten Raum keine Fixation.

Der Beklagte ließ die Klägerin sodann bei R am 29.05.2017 begutachten. Diese stellte in ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 03.08.2017 fest, dass die Klägerin im abgedunkelten Raum deutlich aufmerksamer auf Reize reagiere als im hellen. Hier reagiere sie auf verschiedene Muster. Auf ein Schießscheibenmuster im Projektionskasten reagiere sie beidäugig, was beim ersten Versuch ein Visusäquivalent von 0,022 und beim zweiten Versuch von 0,041 bedeute. Die Klägerin habe bei der Untersuchung grundsätzlich die Fähigkeit gezeigt, auf visuelle Reize zu reagieren und auf einfachem Niveau zu verarbeiten. Die Klägerin habe aufgrund des Pallister-Killian-Syndroms eine Mehrfachbehinderung, die sich auf alle Entwicklungsbereiche auswirke. Von Blindheit im Sinne des BayBlindG könne deshalb nicht ausgegangen werden.

Nach Einholung einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 06.10.2017 die Gewährung von Blindengeld ab, da ein Visus von noch 0,04 bestehe.

Am 02.11.2017 legte die Klägerin gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein und trug vor, dass die Feststellung im Gutachten von R nicht richtig sei, es sei eine Fixation möglich. Diese werde von der Klägerin zwar versucht, gelinge ihr aber nicht. Die Klägerin sehe nicht einmal den Löffel, der sich auf ihren Mund zu bewege. Es sei nicht zu akzeptieren, dass die Begutachtung von einer Psychologin und nicht von einem Augenarzt durchgeführt worden sei. Die Klägerin legte ergänzend einen Befundbericht der Klinik N vom 12.12.2017 über die Durchführung einer Untersuchung der visuell evozierten Potentiale (VEP) vor. Bei guter Kooperation habe kein VEP abgeleitet werden können. Es habe sich lediglich eine geringe Lichtreaktion im Dunkeln gezeigt.

Der Beklagte holte daraufhin weitere Befundberichte ein. Im Bericht des H-Förderzentrums für Kinder und Jugendliche vom 22.11.2017 ist ausgeführt, dass die Fixierung einer Lichtquelle möglich sei, ein Folgen derselben sei aber "nicht hundertprozentig" reproduzierbar. Bei der Klägerin liege eine tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung vor; sie brauche ständige Betreuung bei starker Beeinträchtigung der Kommunikation.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.03.2018 bestätigte H1, dass zwar eine hochgradige Sehbehinderung, nicht aber Blindheit vorliege. Die Klägerin sei mit einer Brille versorgt und es gebe eine Okklusionsbehandlung, was ohne Restsehvermögen sinnlos sei. Eine negative VEP-Ableitung beweise für sich gesehen noch keine Blindheit.

Mit Bescheid vom 28.03.2018 gewährte der Beklagte daraufhin beginnend zum 01.01.2018 Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen nach Art. 1 Abs. 3 BayBlindG.

Auch hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch (26.04.2018) und verwies auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R). Für einen Blindengeldanspruch sei lediglich Voraussetzung, dass es an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" fehle, was hier der Fall sei.

In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 12.01...

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