Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. Unterbrechung. Geringfügigkeit. räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem direkten Weg. Richtungswechsel in entgegengesetzte Richtung. Fußgänger. Überprüfen der abgeschlossenen Wagentür
Leitsatz (amtlich)
1. Bewegt sich ein Fußgänger nicht auf direktem Weg in Richtung seiner Arbeitsstätte oder seiner Wohnung, sondern aus eigenwirtschaftlichen Gründen in entgegengesetzter Richtung von diesem Ziel fort, kann ausnahmsweise Versicherungsschutz nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII bestehen, wenn es sich hierbei um eine lediglich geringfügige Unterbrechung des direkten Weges handelt.
2. Eine Unterbrechung ist nur dann geringfügig, wenn sie bei natürlicher Betrachtungsweise örtlich und zeitlich noch als Teil des Weges in seiner Gesamtheit angesehen werden kann.
3. Ein Versicherter, der zunächst die direkte Wegstrecke von seinem abgestellten Pkw zu seiner Arbeitsstätte zurücklegt, sich dann aber von diesem Ziel für wenige Schritte und für wenige Sekunden in entgegengesetzte Richtung fortbewegt, um das Verschlossensein seines Pkw zu prüfen und dabei verunfallt, steht unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 28. November 2019 und der Bescheid der Beklagten vom 7. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 2018 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das Ereignis vom 11. Juli 2018 ein Arbeitsunfall ist.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin am 11.7.2018 einen versicherten Wegeunfall erlitten hat.
Die 1957 geborene Klägerin ist seit Juni 2018 bei der Firma E. GmbH Konservenfabrik (im Folgenden: Arbeitgeber) in C-Stadt als Hilfsarbeiterin in der Fertigung beschäftigt. Am 11.7.2018 verließ sie um 6:20 Uhr ihr Wohnhaus in A-Stadt und begab sich mit dem Pkw auf direktem Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Gegen 6:30 Uhr (Arbeitsbeginn 7:00 Uhr) stellte die Klägerin ihren Pkw auf den von Osten an die H-Straße angrenzenden Firmenparkplatz des Arbeitgebers ab. Der Firmenparkplatz ist zur H-Straße hin weder abgezäunt noch durch eine Schranke oder ein Tor gesichert; er steht auch der Nutzung von Kunden und Besuchern offen.
Von der dem öffentlichen Verkehr gewidmeten, 10 Meter breiten H-Straße zweigt in Höhe des Firmenparkplatzes nach Südwesten die ca. 70 Meter lange F-Straße als Stichstraße ab. Sie dient an ihrem Ende der Erschließung des im Übrigen äußerlich abgegrenzten (Zäune/Tore/bauliche Grenzen) Firmengeländes des Arbeitsgebers (C-Straße) und zum anderen als Zuwegung zu vorgelagerten Wohnhäusern (F-Straße 4 und 2) sowie zu einem mit einer Lagerhalle bebauten Grundstück der Firma A. (F-Straße 2a), das sich bereits in Ecklage zur H-Straße befindet. Das Firmengelände des Arbeitgebers verfügt am Übergang zur F-Straße an einer baulichen, etwa 8 m breiten Engstelle über ein Wiegehäuschen; ein Werkstor, eine Schranke o.ä. befindet sich dort nicht.
Die Klägerin stieg aus ihrem Pkw aus, um auf direktem Weg zu ihrer Arbeitsstätte (C-Straße) zu gehen. Nachdem sie sich wenige Schritte vom Fahrzeug entfernt hatte, bemerkte sie, dass sie vergessen hatte zu überprüfen, ob die Fahrzeugtür tatsächlich verschlossen war. Die Klägerin wollte deshalb zum Pkw zurückgehen und den Türgriff ziehen. Beim Umdrehen stolperte sie aus nicht aufklärbaren Gründen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden des Firmenparkplatzes. Dabei erlitt die Klägerin ein Trauma an der linken Schulter. Die vom D-Arzt Dr. R. veranlasste MRT-Untersuchung des linken Schultergelenks vom 20.7.2018 ergab eine isolierte Ruptur der Subscapularissehne links mit Retraktion, eine Weichteilschwellung sowie einen Gelenkerguss.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 7.8.2018 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) ab, weil das Ereignis vom 11.7.2018 mit der betrieblichen Tätigkeit der Klägerin nicht im Zusammenhang stünde. Sie habe den unter Versicherungsschutz stehenden direkten Weg zur Arbeitsstelle mit der Drehung zurück in Richtung zum Pkw verlassen und sich auf einem aus eigenwirtschaftlichen Gründen gewählten Abweg befunden.
Die Klägerin legte hiergegen am 14.8.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung ließ sie ausführen, dass sie sich bei dem Sturz noch in unmittelbarer Nähe ihres PKWs befunden (ca. 1 bis 2 Meter) und keineswegs schon eine längere Strecke zum Firmengebäude zurückgelegt habe. Die Drehung zurück in Richtung des Pkw falle deshalb in den Schutzbereich der GUV. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018 zurück und ergänzte den Tenor des angefochtenen Bescheides vom 7.8.2018 insoweit, als das Ereignis vom 11.7.2018 nicht als Arbeitsunfall anerkannt wird. Nach der Rechtsprechung des BSG gebe es grundsätzlich keinen "Straßenbann" mehr, in dessen Reichweite noch Versicherungsschutz bestünd...