Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. strafrechtliche Rehabilitierung. DDR-Unrechtshaft. GdS-Feststellung. relative Harninkontinenz. Verschlimmerungsanteil. keine generelle Unmöglichkeit der Abgrenzung des schädigungsbedingten Anteils. Kausalitätsbeurteilung. Nasenschädigung. Erhöhungswirkung eines Einzel-GdS von 20. Auswirkungen eines "schwachen" Einzel-GdS auf den Gesamt-GdS. unschlüssige Darlegungen des Sachverständigen. tatgerichtliche Würdigung. Verspätung des Antrags nach § 109 SGG. grobe Nachlässigkeit. sozialgerichtliches Verfahren. Sachprüfung der Widerspruchsbehörde. vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit des Ausgangsbescheids

 

Orientierungssatz

1. Wie das BSG ausdrücklich entschieden hat (zB BSG vom 17.4.2013 - B 9 SB 69/12 B), erhöhen Einzel-GdB/GdS-Werte von 20 den Gesamt-GdB/GdS nicht aus Rechtsgründen stets um wenigstens 10 Punkte. Der GdB/GdS ist vielmehr im Rahmen der tatrichterlichen Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen/-schädigungen zu ermitteln.

2. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes ist im Sinne des § 109 Abs 2 SGG regelmäßig verspätet, wenn der Kläger den Antrag nicht in angemessener Frist stellt, obwohl er erkennt oder erkennen muss, dass die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (vgl BSG vom 24.3.1961 - 10 RV 303/57).

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wenn die Behörde in ihrem Überprüfungsbescheid in die Sachprüfung eingestiegen ist, ist die vollständige Überprüfung des Ausgangsbescheids auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (Fortführung der st Rspr des Senats, vgl Urteile vom 27.3.2015 - L 15 VK 12/13 - sowie 26.9.2017 - L 15 VS 14/14).

2. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit nur einem GdB/GdS von 20 bei der Bildung des Gesamt-GdB/GdS erhöhend zu berücksichtigen sein können, wenn sie sich auf eine andere Beeinträchtigung besonders nachhaltig, verstärkend auswirken und so zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen.

3. An die Abgrenzung des schädigungsbedingten Anteils an den Gesundheitsstörungen des Betroffenen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dass dem vom Gesetzgeber gewollten System der Kausalitätsbeurteilungen auch gewisse geringe Unschärfen innewohnen, ist hinzunehmen.

4. Zur Ablehnung eines Antrags nach § 109 SGG.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 21.10.2019; Aktenzeichen B 9 V 11/19 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Mai 2015 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Januar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. September 2013 verurteilt, den Bescheid vom 6. Februar 2008 in der Fassung des Bescheids vom 3. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2009 sowie den Bescheid vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2012 abzuändern und als weitere Schädigungsfolge relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in Höhe von 1/8 zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer höheren Versorgungsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) nach einem GdS von 70 streitig.

Der 1965 geborene Kläger, der seit 01.05.2004 eine Erwerbsminderungsrente der Deutschen Rentenversicherung bezieht, war vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 in der DDR wegen Fluchtversuchs aus Ost-Berlin interniert. Er reiste am 10.07.1985 in die Bundesrepublik ein. Für den Kläger liegt eine Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 Häftlingshilfegesetz (HHG) der Regierung von Schwaben vom 02.01.1987 vor. Zudem wurde der Kläger vom Bezirksgericht Potsdam durch Beschluss vom 19.03.1992 nach dem Rehabilitierungsgesetz (RehabG) vom 06.09.1990 rehabilitiert; die Urteile des Kreisgerichts Potsdam-Land vom 29.11.1983 und des Bezirksgerichts Potsdam vom 21.12.1983 wurden aufgehoben.

Der Kläger stellte erstmals am 03.08.2005 beim Beklagten Antrag auf Beschädigtenversorgung, zunächst nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), wegen Misshandlungen in der Haft und unter Berufung auf physische und psychische Folter sowie tägliches Nasenbluten. Der Kläger wies darauf hin, dass er seit langem in psychiatrischer Behandlung sei und dass gesundheitliche Dauerfolgen wie schwere Depressionen etc. bestünden. Nach der Durchführung umfangreicher Ermittlungen durch den Beklagten erließ dieser am 06.02.2008 einen Bescheid nach dem StrRehaG und erkannte ab 01.08.2005 als Folgen der Freiheitsentziehung vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depressionen, chronische Schmerzen sowie Loch in der Nasenscheidewand mit Krusten- und Borkenbildung und behinderter Nasenatmung, Schiefnase, Schmerzempfindlichkeit im Stirnbereich nach Entnahme eines Stirnlappens im Sinne der Entst...

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