Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Antragstellung durch das Jugendamt. Rückwirkung. Feststellungsbefugnis gemäß § 97 SGB 8. Betrauung des Jugendamts mit dem Recht zur Aufenthaltsbestimmung sowie dem Recht auf Beantragung von Leistungen nach dem SGB 8
Orientierungssatz
Zur Feststellungsbefugnis gemäß § 97 SGB 8 im Rahmen von § 1 Abs 1 OEG iVm § 60 Abs 1 S 1 bis 3 BVG (hier: Betrauung des Jugendamts mit dem Recht zur Aufenthaltsbestimmung sowie dem Recht auf Beantragung von Leistungen nach dem SGB 8 durch das Vormundschaftsgericht).
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 01.02.2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der 1990 geborene Kläger ist wie seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester von nächsten Angehörigen sexuell erheblich missbraucht worden. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger bereits ab Sommer 1997 oder erst ab 01.02.2000 (Beginn des Antragsmonats) Versorgungsleistungen zustehen.
Der Kläger ist seit 1995 bis zur Herausnahme aus dem elterlichen Haushalt im März 1998 immer wieder Opfer von sexuellen Misshandlungen geworden, begangen durch die leiblichen Eltern, die Großmutter väterlicherseits sowie dem angeheirateten Onkel (Ehemann der Schwester des Vaters). Die Täter sind zwischenzeitlich von zu vier bis zu acht Jahren Haft verurteilt worden.
Das Landratsamt B. - Kreisjugendamt - hat mit Schreiben vom 16.02.2000 Leistungen nach dem OEG beantragt. Das Amt für Versorgung und Familienförderung B. hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 03.06.2003 als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab 01.02.2000 anerkannt: "Sekundäre Enkopresis, emotionale und soziale Verunsicherung, dissoziales Verhalten, Angststörung" im Sinne der Entstehung. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist vom 01.02.2000 bis 30.06.2002 um 40 v.H. festgesetzt worden, ab 01.07.2002 unter 25 v.H.
Dem Widerspruch des Kreisjugendamtes vom 17.06.2003 ist mit Teilabhilfe-Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung B. vom 04.02.2005 insoweit stattgegeben worden, als die vorstehend bezeichneten Schädigungsfolgen ab 01.07.2002 mit einer MdE vom 30 v.H. bewertet und entsprechende Versorgungsleistungen weiterbewilligt worden sind.
Im Übrigen ist der Widerspruch vom 17.06.2003 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung B. vom 03.06.2003 mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 21.03.2005 zurückgewiesen worden. Eine Rückwirkung der Leistungen über den Zeitpunkt der Antragstellung hinaus sei nicht möglich. Es träfe zwar zu, dass das Opfer selbst nicht in der Lage gewesen sei, einen Antrag fristgemäß zu stellen. Entgegen den Ausführungen im Widerspruchsschreiben sei das Jugendamt bereits am 05.03.1998 mit dem Recht auf Aufenthaltsbestimmung und Beantragung von Leistungen nach dem SGB VIII betraut worden. Damit habe zum Aufgabenbereich auch die Antragstellung auf Leistungen nach dem OEG gemäß § 97 SGB VIII gehört. Die Jahresfrist des § 60 Abs.1 Satz 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei somit mit Ablauf des 05.03.1999 verstrichen.
In dem sich anschließenden Rechtsstreit hat das Sozialgericht Bayreuth die Rechtsauffassung des Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 01.02.2006 bestätigt. Nach § 1 Abs.1 Satz 1 OEG i.V.m. § 60 Abs.1 Satz 1 BVG beginne die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt seien, frühestens mit dem Antragsmonat, hier also im Februar 2000. Verzögere sich die Antragstellung um längstens ein Jahr nach Eintritt der Schädigung, so sei dies nach § 60 Abs.1 Satz 2 BVG unschädlich. Nach § 60 Abs.1 Satz 3 BVG verlängere sich die Jahresfrist um den Zeitraum, während dessen der Beschädigte ohne sein Verschulden verhindert gewesen sei Versorgung zu beantragen. Von dem Grundsatz, dass dem Minderjährigen ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters bei der verspäteten Antragstellung zuzurechnen sei, habe das Bundessozialgericht (BSG) dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein Gewalttäter als alleiniger gesetzlicher Vertreter des minderjährigen Hinterbliebenen seines Opfers für dieses keinen Versorgungsantrag nach dem OEG gestellt habe (BSGE 59, 40, 42 = SozR 3800 § 1 Nr.5). Es dürfe sich nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch eines Gewaltopfers auswirken, dass sein gesetzlicher Vertreter den Widerspruch zwischen seinen Eigeninteressen (als Täter unentdeckt zu bleiben) und den Interessen der von ihm gesetzlich vertretenen Kinder zu Lasten letzterer löst. In einem solchen Fall lasse sich das pflichtwidrige Unterlassen des Vertreters dem Vertretenen ausnahmsweise nicht zurechnen. Hier sei nicht entscheidungserheblich, dass das Amtsgericht B. - Vormundschaftsgericht - mit Beschluss vom 13.07.1999 dem Landratsamt B. - Kreisjugendamt - die Personensorgeberechtigung übertragen habe. Vielmehr ...