Entscheidungsstichwort (Thema)
Impfschadensrecht. ursächlicher Zusammenhang. Wahrscheinlichkeit. Mitursache. Erkennbarkeit der Primärschädigung. Kannversorgung. sozialgerichtliches Verfahren. Beweisantrag. Ablehnung
Orientierungssatz
1. Eine Versorgung wegen eines Impfschadens steht nicht schon dann zu, wenn ein Impfschaden nicht mit hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen ist, sondern erst dann, wenn mehr für als gegen einen Impfschaden spricht (hier verneint bei der bloßen Möglichkeit einer seltenen symptomarmen Enzephalitis).
2. Haben mehrere Umstände zu einem Schädigungserfolg beigetragen, sind sie nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Schädigungserfolgs "annähernd gleichwertig" sind (vgl BSG vom 8.8.1974 - 10 RV 209/73 = SozR 3610 § 4 Nr 1).
3. Hinsichtlich des Beweismaßstabs genügt die Wahrscheinlichkeit nicht nur für die Kausalität zwischen gesundheitlicher Schädigung und Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität), sondern auch für die Kausalität zwischen Impfung und gesundheitlicher Schädigung (haftungsbegründende Kausalität).
4. Die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs zwischen Impfung und verbliebenen Gesundheitsschaden darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit negiert werden.
5. Die Voraussetzungen für eine Kannversorgung nach § 61 S 2 IfSG iVm Teil C Nr 4 Buchst b der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (juris: VersMedV) sind nicht erfüllt, wenn eine allgemeine Ungewissheit über Ätiologie (Krankheitsursache) und/oder Pathogenese (Krankheitsentwicklung) in der Wissenschaft nicht besteht (hier hinsichtlich frühkindlicher Epilepsie).
6. Beweisanträge dürfen im sozialgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf § 103 S 2 SGG schon dann abgelehnt werden, wenn die beantragte Beweiserhebung am Maßstab der Amtsermittlungspflicht gemessen nicht notwendig erscheint (hier zu einem Antrag auf Vernehmung eines im Verwaltungsverfahren aufgetretenen Gutachters, dessen Gutachten im Sozialgerichtsverfahren über den Urkundsbeweis verwertet wurden).
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 7. Mai 2008 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen einer Versorgung nach dem Impfschadensrecht.
Für den mittlerweile 32-jährigen Kläger ist für die Wahrnehmung der Ansprüche wegen Impfschadens eine ausschließliche Betreuung durch Rechtsanwältin P. eingerichtet. In allen übrigen Bereichen ist dessen Mutter gesetzliche Betreuerin.
Schwangerschaft und Geburt waren beim Kläger unauffällig verlaufen. Am 02.02.1980 fand eine Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt statt. Im Rahmen dessen wurden die erste Impfung mit inaktiviertem Diphterie-Tetanus-Pertussis-Impfstoff (DTP-Impfstoff) sowie eine Polio-Schluckimpfung (attenuierte Poliomyelitis-Lebendvakzine - P-Impfstoff) durchgeführt. Diese ersten Impfungen vertrug der Kläger ohne Komplikationen. Die zweite Impfung ebenfalls mit DTP- und P-Impfstoff erfolgte am 16.06.1980. Die Eintragungen im Impfbuch wurden nicht nach Hersteller und Chargennummer spezifiziert. Am Abend des 16.06. und am Vormittag des 17.06.1980 riefen die Eltern den Arzt, da hohes Fieber bestand. Über den Krankheitsverlauf zwischen dem 17. und 22.06.1980 existieren weder Unterlagen in den Akten noch zeitnahe Angaben der Eltern.
Am 22.06.1980 trat beim Kläger ein erster Krampfanfall auf. Man brachte ihn zur diagnostischen Abklärung der Anfallursache in die Universitätskinderklinik B-Stadt (im Folgenden: F.). Thorax und Schädel waren ohne pathologischen Befund. In der Magensaft- und Urinanalyse entdeckte man damals eine sauer extrahierbare Substanz, die nicht weiter identifiziert werden konnte. Im Blutbild war der Leukozytenanteil (vorwiegend Lymphozyten) stark erhöht. Die F. äußerte die Vermutung, der Krampfanfall und die gleichsam festgestellte Tachykardie seien am Ehesten auf eine Intoxikation mit einer nicht näher identifizierbaren Substanz zurückzuführen. Die klinischen Symptome, so liest man im Abschlussbericht, sprächen am Ehesten für ein Pfeiffer‚sches Drüsenfieber, wobei der serologische Erregernachweis fehlte. In der Anamnese dieses Berichts wurde festgehalten, "in den letzten Tagen" hätten keine Infektzeichen bestanden; am Tag vor der Aufnahme sei der Kläger etwa 35 cm tief aus dem Kinderwagen auf einen Holzboden gefallen, nach dem Sturz aber unauffällig gewesen.
Am 27.08.1980 trat im Rahmen eines viralen Infekts ein weiterer schwerer Krampfanfall auf, der stationär behandelt und als Fieberkrampf interpretiert wurde. Im Alter von 15 Monaten ereigneten sich erneut zwei Krampfanfälle, worauf eine antikonvulsive Therapie eingeleitet wurde. Die nächsten Jahre waren davon geprägt, dass sich die Anfallsituation verschlechterte, die Anfälle medikamentös nicht beherrschbar waren und sich beim Kläger eine zunehmende geistige u...