Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Kindheit in der ehemaligen DDR. spätere Vergewaltigung von Unbekanntem in den alten Bundesländern. sexueller Missbrauch der Tochter durch Ehemann. Verschlimmerung. ursächlicher Zusammenhang bei Mehrfachschädigung. wesentliche Bedingung. keine Ausschlussfrist bei Taten in der ehemaligen DDR. Darlegung der konkreten Ausgestaltung des tätlichen Angriffs nicht erforderlich. Grad der Schädigungsfolgen. keine Präjudizwirkung eines GdB für eine GdS-Feststellung. Veranlagungsanteil. Verschiebung der Wesensgrundlage. getrennte Zuständigkeit der Versorgungsträger. richtiger Beklagter. Passivlegitimation
Orientierungssatz
1. Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, sind iS des § 10a Abs 1 S 1 Nr 1 OEG "allein infolge dieser Schädigung" schwerbeschädigt, wenn keine weitere Schädigung im versorgungsrechtlichen Sinn mitwirkt, also die Zweitschädigung keine wesentliche Bedingung mehr ist.
2. Der Einbeziehung von § 10c OEG in § 10 S 5 OEG darf nicht die Wertung entnommen werden, dass Ansprüche aus "alten" DDR-Taten nur dann entschädigt werden können, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach dem Beitritt gestellt worden ist.
3. Der unwiderlegliche Schluss von der strafrechtlichen Tatbestandserfüllung des sexuellen Kindesmissbrauchs nach § 176 StGB auf das Vorliegen eines tätlichen Angriffs scheitert nicht daran, dass das StGB zur Zeit der Begehung der Tat in der ehemaligen DDR noch nicht galt.
4. Damit der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG bejaht werden kann, braucht seine konkrete Ausgestaltung nicht festzustehen; es genügt, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass ein tätlicher Angriff stattgefunden hat.
5. Ein festgestellter Grad der Behinderung (GdB) kann auch für das versorgungsrechtliche Verfahren wichtiges Indiz sein; er hat aber keinerlei Präjudizwirkung für die Ermittlung eines Grades der Schädigungsfolgen (GdS) zu einem früheren Zeitpunkt.
6. Wird festgestellt, dass die Entstehung oder die Verschlimmerung eines Leidens wesentlich durch ein schädigendes Ereignis verursacht ist, dürfen mögliche kumulative, schädigungsunabhängige Ursachen (hier Veranlagungsanteil) nicht bei der GdS-Bemessung quasi herausgerechnet werden. Insoweit gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip wie im Unfallversicherungsrecht.
7. Die objektive Beweislast für eine Verschiebung der Wesensgrundlage, also dem nachträglichen Wechsel der Ursache bei unverändert gebliebenem Krankheitsbild (vgl BSG vom 23.5.1969 - 10 RV 273/66 = KOV 1970, 9), liegt beim Leistungsträger.
8. Der Grundsatz des § 4 Abs 4 OEG, wonach die durch Hinzutreten einer weiteren Schädigung verursachten Kosten von dem für die Versorgung wegen der weiteren Schädigung zuständigen Leistungsträger zu übernehmen sind (Zuständigkeitstrennung), muss über die Fälle des § 3 Abs 1 OEG hinaus entsprechend für die Fälle angewandt werden, in denen mehrere Schädigungen nach dem OEG in unterschiedlichen Ländern stattfinden (entgegen Rundschreiben des BMAS vom 28.9.2011 - V b 2 - 54030).
9. Es besteht kein Grundsatz, wonach in einem OEG-Verfahren immer nur das aktuelle Wohnsitzland Beklagter sein kann (Abgrenzung zu BSG vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R).
10. Wenn ein beklagter Leistungsträger (hier das Land Brandenburg) meint, er sei nicht leistungspflichtig, weil es einen anderen Leistungsträger (hier den Freistaat Bayern) treffe, dann bleibt der erste Leistungsträger gleichwohl passivlegitimiert, wenn er den ablehnenden Bescheid erlassen hat.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. September 2005 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 10.Januar 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. September 2002 verurteilt, die Gesundheitsstörungen “posttraumatische Belastungsstörung, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung rezidivierende depressive Störung (schwergradig), intermittierend Suizidalität und Benzodiazepinabusus„ als Schädigungsfolgen nach dem OEG im Sinn der Entstehung anzuerkennen und ab Oktober 2000 Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 80 zu gewähren.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen einer Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Aus Vereinfachungsgründen wird im Folgenden, wenn das Maß der Versorgung thematisiert wird, nur vom Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gesprochen, auch wenn es um Zeiten bzw. Feststellungen vor dem 21.12.2007 geht. Der bis einschließlich 20.12.2007 gesetzlich statuierte Maßstab der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) findet keine Erwähnung.
Die 1956 geborene Klägerin lebt seit 1989 in der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen der “alten Bundesländer„, vorher in der DDR. Sie wuchs mit drei Geschwistern in ein...