Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen als Voraussetzung einer Befreiung von der Rundfünkgebührenpflicht. Schwerbehindertenrecht: Gesundheitliche Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG sowie des Merkzeichens RF

 

Leitsatz (amtlich)

1. Voraussetzung für das Merkzeichen aG ist, dass der Behinderte praktisch ab den ersten Schritten die für das Merkzeichen aG erforderlichen ganz erheblichen Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit hat.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für eine weite Auslegung im Rahmen der Prüfung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG kein Raum.

3. Beim Merkzeichen aG kommt es ausschließlich auf die gesundheitlichen Voraussetzungen in der Person des Behinderten, nicht aber auf dessen konkrete Wohnumstände.

4. Ohne Bedeutung für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichens RF ist es, wenn sich der Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auf die Wohnverhältnisse oder andere Umstände im Lebensumfeld des Behinderten gründet, denn dann ist der Teilnahmeausschluss nicht behinderungsbedingt, sondern durch andere Umstände verursacht.

 

Orientierungssatz

Zitierung zu Leitsatz 2: Vergleiche BSG, 3. Februar 1988, 9/9a RVs 19/86

 

Normenkette

SGB IX § 69 Abs. 4; VersMedV § 2 Sätze 1, 2 Anl.; StVG § 6 Abs. 1 Nr. 14; StVO § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 11, Abs. 2 S. 3; VwV-StVO Art. 1 Zu § 46 Rand-Nr. 129; VwV-StVO Art. 1 Zu § 46 Rand-Nr. 130; RGebStV § 6 Abs. 1 Nrn. 8, 7 Buchst. a, b; 15. RÄndStV § 4 Abs. 2 Nrn. 3, 1-2

 

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 11. November 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch darauf hat, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und RF (bis 31.12.2012 Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, danach Ermäßigung auf ein Drittel) festgestellt werden.

Bei der im Jahr 1931 geborenen Klägerin waren mit Bescheid vom 09.08.2001 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt worden.

Ein Antrag der Klägerin im Jahr 2005 auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und RF sowie auf Erhöhung des GdB hatte nur insofern Erfolg, als der GdB mit Bescheid vom 25.11.2005 auf 90 erhöht wurde.

Mit Schreiben vom 13.07.2008 und 26.07.2008 beantragte die Klägerin erneut die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und RF. Sie fühle sich diskriminiert. Sie wohne am Ortsrand ca. zwei Kilometer zur Ortsmitte und sei daher auf ihr Auto angewiesen. Jeder andere, der verkehrsgünstig wohne, habe Ausgaben für ein Kfz, wie sie sie habe, nicht, könne sich vielmehr für ein paar Euro eine Wertmarke kaufen und habe dann überall freie Fahrt. Sie kenne Behinderte, die im Rollstuhl beweglicher seien als sie. Bei jedem Schritt tue das Kreuz weh. Nach zwei bis drei Metern müsse sie stehen bleiben, um den Schmerz abklingen zu lassen. Ihre Rente sei niedrig. Sie gehe kaum noch aus dem Haus und habe zur Unterhaltung nur Radio und Fernsehen.

Der Hausarzt der Klägerin Dr. F. berichtete dem Beklagten am 03.08.2008, dass die Klägerin an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, einem erheblichen Übergewicht, Rückenbeschwerden und Arthrose in Knie und Hüfte leide. Es bestehe der dringende Verdacht auf eine koronare Herzerkrankung. Zudem liege eine zunehmende Harninkontinenz mit Beeinträchtigung im täglichen Leben vor. Die Klägerin müsse inzwischen sowohl im häuslichen Bereich als auch unterwegs einen Stock benutzen.

Mit Änderungsbescheid vom 11.09.2008 stellte der Beklagte, einer versorgungsärztlichen Auswertung folgend, den GdB mit 100 fest; die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B, nicht aber der Merkzeichen aG und RF, seien - so der Beklagte -erfüllt. Dem lagen folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde:

1. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Krampfadern - Einzel-GdB 50

2. Diabetes mellitus - Einzel-GdB 40

3. degenerative Veränderungen mit rückfälligen Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschäden, chronifiziertem Schmerzsyndrom - Einzel-GdB 40

4. Weichteilrheumatismus - Einzel-GdB 30

5. Übergewicht mit Auswirkung auf das Herz-Kreislaufsystem - Einzel-GdB 20

6. chronische Nebenhöhlenentzündung - Einzel-GdB 10

7. Funktionsbehinderung beider Schultergelenke - Einzel-GdB 10.

Mit Schreiben vom 11.10.2008 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Ablehnung der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und RF.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2008 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Am 12.11.2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht München erhoben und die Zuerkennung der Merkzeichen aG und RF beantragt. Sie sei auf ihr Auto ang...

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