Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld. Asylbewerber. gewöhnlicher Aufenthalt. dauerhafter Aufenthalt. Prognoseentscheidung

 

Orientierungssatz

1. § 1 Abs 3 BKGG stellt weder eine lex specialis iS einer neben § 1 Abs 1 BKGG bestehenden selbständigen Anspruchsnorm dar noch eine (rechtserweiternde) Ausnahmevorschrift zu den Begriffen Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt in § 1 Abs 1 BKGG. Vielmehr schiebt § 1 Abs 3 BKGG einen nach Abs 1 Nr 1 einsetzenden Anspruch um ein Jahr hinaus, wenn feststeht, daß der Ausländer auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden kann und daher der vorübergehende Aufenthalt zu einem gewöhnlichen wird. Die Umschreibungen der Tatbestandsmerkmale in § 1 Abs 1 Nr 1 und § 1 Abs 3 BKGG sollen mit anderen Worten dasselbe aussagen, parallel laufen (vgl BSG vom 12.2.1992 - 10 RKg 26/90).

2. Aus § 1 Abs 1 BKGG sowie § 1 Abs 3 BKGG in den Fassungen vom 21.1.1986 und 9.7.1990 ist zu folgern, daß Asylbewerber während der Dauer eines Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens, in welchen über ihre Asylberechtigung entschieden wird, im Regelfall keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben (vgl BSG vom 31.1.1980 - 8b RKg 4/79 = BSGE 49, 254; BSG vom 15.6.1982 - 10 RKg 26/81 = BSGE 53, 294; BSG vom 16.6.1982 - 10 RKg 27/81; BSG vom 16.6.1982 - 10 RKg 34/81).

3. Asylbewerber können im Normalfall nicht von vornherein damit rechnen, daß die von ihnen angestrebte Asylberechtigung anerkannt wird und damit zu einem dauerhaften Aufenthalt führt (vgl BSG vom 20.5.1987 - 10 RKg 18/85 = Breith 1988, 339 und BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 20/86; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 21/86; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 16/87; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 17/87 = BSGE 63, 47). Anders verhält es sich nur bei asylberechtigten Ausländern, wenn lediglich die deklaratorische Asylanerkennung noch aussteht (BSG vom 12.2.1992 - 10 RKg 26/90).

4. Ein Kindergeldanspruch eines Asylbewerbers könnte dann ausnahmsweise begründet sein, wenn bereits während des Asylverfahrens oder eines Rechtsstreits - unabhängig vom Ausgang - weitere Gründe bestehen oder eintreten, die wie bei einem Ausländer, der die Anerkennung als Asylberechtigter nicht beantragt hat oder der bereits endgültig als solcher abgelehnt worden ist, zu dem Schluß führen, der Kindergeld-Antragsteller werde auf Dauer im Inland verbleiben. Dies setzt voraus, daß der Aufenthalt des Ausländers in gewissem Umfange gesichert ist, also eine "Berechtigung" besteht oder zumindest aus den Umständen des Einzelfalles geschlossen werden kann, daß eine Abschiebung auf Dauer nicht möglich sein wird (vgl BSG vom 31.1.1980 - 8b RKg 4/79; BSG vom 15.6.1982 - 10 RKg 26/81; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 21/86; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 16/87; BSG vom 23.2.1988 - 10 RKg 17/87; BVerfG vom 14.5.1991 - 1 BvR 300/91 = SozR 3-7833 § 1 Nr 4).

5. Der tatsächliche Aufenthalt wird erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 30 Abs 3 S 2 SGB 1, wenn nach dem jeweils geltenden Ausländerrecht und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die deutschen Behörden davon auszugehen ist, daß der Ausländer nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann. Dabei kommt es auf die voraussehbare Zukunft, auf die Prognose des voraussichtlich dauernden Verbleibs an. Es liegt hierbei im Wesen der ex-ante-Prognose, daß ihre Richtigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt durch spätere Entwicklungen nicht rückschauend widerlegt werden kann und darf (vgl BSG vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 = BSGE 65, 85 und BSG vom 12.2.1992 - 10 RKg 26/90).

6. Entscheidungen zu einem Abschiebestopp stehen im Ermessen der Landesbehörden (§ 17 Abs 1 AuslG 1965, § 54 AuslG 1990: "kann"). Die entsprechenden Ermessensentscheidungen können die Kindergeldkassen und die Sozialgerichte nicht ersetzen (BSG vom 13.8.1996 - 10 RKg 11/95). Im Kindergeldverfahren ist das Ausländerrecht nicht eigenständig anzuwenden, sondern es ist zum Zwecke der Tatsachenfeststellung (nur) zu ermitteln, wie die zuständigen Behörden die ausländerrechtlichen Vorschriften handhaben (BSG vom 30.4.1996 - 10 RKg 33/93). Erkenntnisquellen für eine derartige Feststellung sind in erster Linie Auskünfte der zuständigen Ausländerbehörde (BSG vom 12.12.1995 - 10 RKg 7/95).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 19.05.1998; Aktenzeichen B 14 KG 2/98 B)

 

Tatbestand

Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Kindergeldanspruch des Klägers für fünf Kinder im Zeitraum vom 01.01.1989 bis 30.04.1991 (Berufung des Klägers) und anschließend vom 01.05.1991 bis 31.05.1993 (Berufung der Beklagten).

Der im Jahre 1957 geborene Kläger, ein syrischer Staatsangehöriger aramäischer Volkszugehörigkeit, und seine Familienangehörigen sind am 25.12.1985 mit falschen Pässen von Beirut nach Paris geflogen und am 27.12.1985 illegal in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) eingereist. Im Januar 1986 beantragte er beim Ausländeramt der Stadt A Asyl und gab an, aus wirtschaftlichen Gründen im Jahre 1972 von Syrien in den Libanon ausgewandert zu sein. Zur Ableistung des Wehrdienstes s...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge