Entscheidungsstichwort (Thema)
Rehabilitation und Teilhabe. Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Jugendhilfeträgers gegen den Sozialhilfeträger. Nachrang der Jugendhilfe. Leistungskongruenz. sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB 8 und Eingliederungshilfe nach dem SGB 12. Mehrfachbehinderung
Leitsatz (amtlich)
1. Die originäre sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII stellt keine über die reine Erziehungshilfe hinausgehende Förderung der Leistungsberechtigten dar, die die Zielsetzung der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs 3 SGB XII) verfolgt, nämlich der Leistungsberechtigten das Leben in der Gesellschaft außerhalb der Familie zu ermöglichen und sie in die Gesellschaft einzugliedern.
2. Gegen die Rechtsauffassung, dass im Fall einer Mehrfachbehinderung einer Leistungsberechtigten die Kollisionsregel des § 10 Abs 4 S 2 SGB VIII stets anzuwenden ist, spricht die grammatikalische, systematische und teleologische Interpretation dieser Vorschrift.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12.12.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten auch des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten nur noch die Erstattung von Kosten in Höhe von insgesamt 34.880,69 €, die die Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe in der Zeit vom 03.08.2015 bis zuletzt 31.10.2018 für die von ihr jeweils als Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII für die Leistungsberechtigte H bezeichneten Hilfsmaßnahmen aufgewandt hat.
Die 2009 geborene Leistungsberechtigte H ist iranische Staatsangehörige, ihre Familie ist im Mai 2012 in die Gemeinschaftsunterkunft B zugezogen. H ist mehrfach behindert (geistige und seelische Behinderung aufgrund deutlicher Intelligenzminderung, fehlende Sprachentwicklung, symptomatische fokale Epilepsie, Verhaltensstörung mit auto- und fremdaggressivem Verhalten). Der Bruder der Leistungsberechtigten H ist ebenfalls schwerbehindert. Seit Oktober 2014 trägt der Beklagte die Kosten für den Besuch einer Tagesstätte durch H sowie für einen Integrationshelfer zum Besuch einer Tagesstätte und einer schulvorbereitenden Einrichtung bzw. seit September 2016 die Kosten für eine Schulbegleitung zum Besuch einer Schule.
Laut Telefonvermerk vom 20.01.2015 setzte der Allgemeine Sozialdienst (ASD) der Klägerin den Beklagten davon in Kenntnis, dass die Familie der Leistungsberechtigten H mit dieser nicht mehr zurechtkomme und dringend eine Familienhilfe benötigt werde. Der Beklagte vertrat die Auffassung, dass die Familienhilfe nicht zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gehöre, sondern zur Hilfe zur Erziehung. Die Zuständigkeit liege daher bei den Jugendämtern. Mit Schreiben vom 23.02.2015 leitete der Beklagte im Nachgang zur Weiterleitung des Aktenvermerks über die telefonische Antragstellung der Eltern der Leistungsberechtigten H vom 27.01.2015 den schriftlichen Antrag vom 19.02.2015 (Schreiben vom 14.02.2015) auf Familienberatung oder -hilfe an die Klägerin gemäß § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) weiter. Nachdem sich die Klägerin nicht mit dem Beklagten über die sachliche Zuständigkeit für die beantragte Hilfe einigen konnte, gewährte sie mit Bescheiden vom 02.11.2015 (unter Rücknahme des Bescheids vom 03.09.2015 gemäß § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫), 26.11.2015, 18.05.2016, 15.12.2016, 26.06.2017 und 19.12.2017, die an die Eltern der Leistungsberechtigten H adressiert waren, für den Zeitraum vom 03.08.2015 bis zunächst 30.04.2018 "Kinder- und Jugendhilfe nach § 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) hier: Bewilligung einer vorläufigen Leistung" als ambulante Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Kostenübernahme für den Einsatz einer ambulanten Einzelbetreuung durch die Evangelische Kinder-, Jugend- und Familienhilfe des Diakonischen Werkes B e. V.. Der Fachbereich der Klägerin "Jugend und Familie" werde bis zur abschließenden Klärung der sachlichen Zuständigkeit als zweitangegangener Träger gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX vorläufig die Leistung erbringen. Den Leistungsgewährungen lagen die Berichte des ASD der Klägerin vom 13.02.2015 und 29.06.2015, die Entwicklungsberichte des Diakonischen Werkes B vom 26.10.2015, 14.04.2016, 09.11.2016, 28.4.2017 und 24.10.2017, der Hilfeplan der Klägerin vom 09.11.2015 sowie dessen Fortschreibungen vom 26.04.2016, 18.11.2016, 31.5.2017 und 21.11.2017 zugrunde, auf deren Inhalt verwiesen wird.
Nachdem der Beklagte zuletzt mit Schreiben vom 15.12.2015 einen Antrag auf Erstattung der Kosten abgelehnt hatte, hat die Klägerin am 04.08.2016 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg (VG) (W 3 K 16.807) erhoben. Mit Beschluss vom 28.10.2016 hat das VG den Rechtsstreit wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs an das Sozialgericht Würzburg (SG) verwiesen.
Zur Klagebegründung hat die Klägerin insbesondere vorgetragen, dass ihr die Erstattung der Kosten nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X bzw. nach § 102 SGB X zustehe. Es bestehe nämlich eine vo...