Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. medizinisches Cannabis. nicht zur Verfügung stehen einer Standardtherapie. hohe Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes. Überprüfbarkeit durch Krankenkassen und Gerichte
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Standardtherapie steht gemäß § 31 Abs 6 S 1 Nr 1a) SGB V nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (Anschluss an BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R = BSGE 135, 89 = SozR 4-2500 § 31 Nr 31, RdNr 22; B 1 KR 9/22 R = SozR 4-2500 § 13 Nr 57 RdNr 22 und B 1 KR 19/22 R = SozR 4-2500 § 31 Nr 33 RdNr 18).
2. Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen (Anschluss an BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R aaO, RdNr 24 ff).
3. Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist (Anschluss an BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R aaO, RdNr 37 ).
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.05.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit medizinischem Cannabis zur Behandlung von Schmerzen.
Mit Bescheid vom 12.06.2019 stellte das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) bei der 1938 geborenen und bei der beklagten Krankenkasse versicherten Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Die Gesundheitsstörungen wurden dabei wie folgt beschrieben: Gleichgewichtsstörung mit Gangunsicherheit (Einzel-GdB: 30), Somatoforme Schmerzstörung (Einzel-GdB: 30), Krampfadern, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes rechts mit künstlichem Gelenkersatz der Hüfte (Einzel-GdB: 30), Schwerhörigkeit beidseits mit Schwindel (Einzel-GdB: 20), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen (Einzel-GdB: 20) und Fingerpolyarthrose (Einzel-GdB: 10).
Mittels Arztfragebogens zu Cannabinoiden ihres Hausarztes, des Facharztes für Allgemeinmedizin P vom 03.08.2020 beantragte die Klägerin im August 2020 die Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen, eines LWS-Syndroms, eines Bandscheibenvorfalls, einer Coxarthrose re sowie eines Z.n. TEP re der Hüfte. Zu Wirkstoff, Handelsnamen und Dosis machte der Mediziner dabei keine Angaben. Cannabis solle als Tabletten oder Tropfen verordnet werden. Behandlungsziele seien Schmerzreduktion sowie die Verbesserung der Lebensqualität.
Der von der Beklagten mit einer gutachterlichen Stellungnahme beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) - über die Beauftragung wurde die Klägerin mit Schreiben vom 18.08.2020 informiert - teilte unter dem 02.09.2020 mit, es sei zwar von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen. Auch wenn auf Grund des hohen Alters und der vorliegenden Funktionsstörungen der Einsatz hochpotenter Opiate nicht empfehlenswert erscheine und damit auf weitere Analgetika nach WHO-Stufenschema nicht verwiesen werden solle, stünden doch verschiedene Co-Analgetika (z.B. Antikonvulsiva wie Pregabalin/Gabapentin, Antidepressiva wie Amitriptylin und Muskelrelaxanzien wie Ortoton) sowie nicht medikamentöse Therapien wie regelmäßige, bereits im Rahmen der stationären Schmerztherapie erfolgreich eingesetzte Heilmittelanwendung und schmerzpsychotherapeutische Begleittherapie zur Verfügung. Ebenfalls sei eine bewilligte Schmerzrehabilitationsmaßnahme den Unterlagen zu entnehmen, deren Erfolg abzuwarten bleibe. Die Vorstellung beim Schmerztherapeuten werde empfohlen.
Gestützt auf diese Einschätzung lehnte die Beklagte die Kostenübernahme mit Bescheid vom 08.09.2020 ab.
Deswegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, die ein menschenwürdiges Lebens nicht mehr möglich mache. Sie habe seit Monaten unerträgliche Schmerzen, die chronisch geworden seien. Medikamente würden nicht mehr helfen bzw. hätten Nebenwirkungen. Sie sei nicht mehr in der Lage, Therapien durchzuführen. Der Begründung fügte sie u.a. ein ärztliches Attest von P vom 30.09.2020 bei, wonach er den Widerspruch unterstütze, da Cannabis unter ärztlicher Behandlung hier eine Verbesserung des Krankheitsbildes beeinflussen könne. Die Klägerin befinde sich seit kurzem in seiner hausärztlichen Behandlung. Das Recht der Klägerin auf Rezeptieren von Cannabispräparaten werde unterstützt.
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