Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Rentenversicherung: Rente wegen Erwerbsminderung bei einer Schmerz- bzw. Somatisierungsstörung. Wegefähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

 

Orientierungssatz

1. Psychische Erkrankungen (hier: Schmerz- bzw. Somatisierungsstörung) werden erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (vgl. BSG, 12. September 1990, 5 RJ 88/89 und BSG, 29. März 2006, B 13 RJ 31/05 R und LSG München, 8. Mai 2019, L 19 R 376/17).

2. Die Wegefähigkeit wird abstrakt bestimmt als Fähigkeit, viermal täglich eine Strecke von mehr als 500m zu Fuß in jeweils bis zu 20 Minuten zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel zur Hauptverkehrszeit benutzen zu können, ersatzweise über ein Fahrzeug zu verfügen und mit diesem zur Arbeit gelangen zu können.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 19.08.2020; Aktenzeichen B 13 R 180/19 B)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.05.2019 (nicht: 12.05.2016) wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung hat.

Die 1960 geborene Klägerin erlernte von September 1976 bis August 1979 den Beruf einer Krankenschwester und qualifizierte sich später zur Stationsleitung weiter. Zuletzt war sie versicherungspflichtig als Krankenschwester im Kreiskrankenhaus W. in A-Stadt beschäftigt.

Ab 27.09.2012 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Am 28.06.2013 wurde durch Dr. U. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage erstellt, in dem als Diagnosen aufgeführt waren:

1. Persistierendes Zervikobrachialsyndrom bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenprotrusionen C 3/C 4 und C 5/C 6.

2. Omalgien beidseits mit Zustand nach Operation der linken Schulter wegen Outlet Impingement Dezember 2012.

3. Zustand nach Karpaltunnelsyndrom-Operation links 8/2012, Verdacht auf somatoforme Schmerzstörung.

Die Klägerin sei auf nicht absehbare Zeit weiter arbeitsunfähig und eine stationäre medizinische Rehabilitation solle baldmöglichst erfolgen.

Im Juli 2013 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der M-Klinik L-Stadt, die vom 15.08.2013 bis 12.09.2013 durchgeführt wurde. Im dortigen Entlassungsbericht vom 19.09.2013 sind als Diagnosen aufgeführt:

1. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.

2. Leichte depressive Episode.

3. Schulterläsion (Zustand nach Schulteroperation links mit weiteren funktionellen Einschränkungen und Schmerzpersistenz).

4. Zervikobrachialsyndrom.

Die Klägerin sei für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeit überwiegend im Gehen, im Stehen und im Sitzen ohne Nachtschicht täglich sechs Stunden und mehr leistungsfähig. Zu vermeiden seien Überkopfarbeiten, Arbeit mit gestreckten Händen, linksseitige Belastungen, Heben, Tragen und Bewegen von Lasten, Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, Verantwortung für Personen und Maschinen, häufig wechselnde Arbeitszeiten sowie Nässe, Kälte und Zugluft. Die letzte Tätigkeit der Klägerin als Krankenschwester in einer geriatrischen Reha-Einrichtung sei mit unter drei Stunden täglich anzunehmen.

Der Klägerin wurde im April 2014 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt, hauptsächlich wegen der somatoformen Schmerzstörung und depressiven Verstimmung. Ein späterer Neuantrag auf Erhöhung des GdB ist ohne Erfolg geblieben.

Am 08.10.2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Parallel dazu wurde auf Veranlassung der Agentur für Arbeit B-Stadt am 18.12.2013 über die Klägerin durch M. F. ein Gutachten nach Aktenlage erstellt, wonach insbesondere wegen Beschwerden im Bewegungsapparat für voraussichtlich länger als sechs Monate, aber nicht auf Dauer ein Leistungsvermögen von täglich weniger als drei Stunden vorliegen würde.

Die Beklagte ließ ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten durch Dr. V. erstellen, der die Klägerin am 14.01.2014 untersuchte. In seinem Gutachten vom 15.01.2014 beschrieb er folgende Gesundheitsstörungen bei der Klägerin:

1. Chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren.

2. Verdacht auf somatoforme Schmerzstörung.

3. Depression.

4. Impingement-Syndrom und leichte Bewegungseinschränkung beider Schultergelenke sowie Zustand nach OP linke Schulter (12/2012).

5. Halswirbelsäulen-Syndrom bei Bandscheibenprotrusionen.

6. Chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom.

7. Trochanterreizsyndrom beidseits.

Es sei eine Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fach...

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