Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Altverfahren. Erhebung der Verzögerungsrüge. keine Zulässigkeitsvoraussetzung. Prozesshandlungen vor dem EGMR nicht ausreichend. keine Hinweispflicht des Gerichts auf Rügeobliegenheit. Ermittlung der unangemessenen Dauer. Schwere der Beeinträchtigung. indizielle Bedeutung der durchschnittlichen Dauer vergleichbarer Verfahren. Feststellung der Unangemessenheit im Urteil. keine konkrete Bezifferung der Überlänge nötig. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Klageänderung. fehlende Passivlegitimation des Klagegegners
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs 3 GVG stellt eine materielle Entschädigungsvoraussetzung dar.
2. Es kommt darauf an, ob der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht beeinträchtigt worden ist. Damit wird eine gewisse Schwere der Belastung von vornherein vorausgesetzt (im Anschluss an BSG vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1).
3. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer muss den Zeitraum oder die Zeitdauer der Überlänge nicht genau beziffern.
Orientierungssatz
1. Ein Vergleich der Verfahrensdauer des konkreten Falles mit den Durchschnittswerten der Dauer vergleichbarer Verfahren kann indizielle Bedeutung haben, wenn nicht der Durchschnitt selbst eine überlange Verfahrensdauer widerspiegelt (hier: auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer durchschnittlichen Klagedauer von 27,1 Monaten im Jahr 2007 und einer durchschnittlichen Dauer von Berufungsverfahren von 19,5 Monaten).
2. Bei einem anwaltlich vertretenen Kläger besteht keine Hinweispflicht auf das Erfordernis einer Entschädigungsrüge nach Art 23 S 2 und 3 ÜberlVfRSchG.
3. Prozesshandlungen im Verfahren vor dem EGMR stellen keine Verzögerungsrüge vor dem LSG dar.
4. Die Erweiterung der Entschädigungsklage auf weitere, in einem anderen Bundesland angestrengte Ausgangsverfahren stellt keine sachdienliche Klageänderung dar, wenn der Klagegegner im Hinblick auf diese weiteren Verfahren nicht passivlegitimiert ist (§ 200 S 1 GVG) und die gerügten Verfahren als bereits abgeschlossene Verfahren im Gegensatz zu den bisher streitgegenständlichen Ausgangsverfahren nicht unter den Anwendungsbereich des Art 23 S 1 ÜberlVfRSchG fallen.
Nachgehend
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass die Dauer des Berufungsverfahrens L 2 U 268/07 vor dem Bayerischen Landessozialgericht unangemessen war.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens haben der Beklagte 1/2 und der Kläger 1/2 zu tragen.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Gewährung von Entschädigungsleistungen wegen einer überlangen Verfahrensdauer bei der Feststellung zusätzlicher Unfallfolgen aus dem Arbeitsunfall des Klägers vom 09.06.1994 in mehreren Verwaltungs-, Widerspruchs- und Gerichtsverfahren. So in erster Instanz vor dem Sozialgericht Augsburg (SG) sowie in dem anschließenden Berufungsverfahren vor dem Bayer. Landesozialgericht (LSG).
Der 1962 geborene Kläger erlitt am 09.06.1994 einen Arbeitsunfall, für den die zuständige Berufsgenossenschaft (BG - damals die Beklagte) mit Bescheid vom 08.11.1995 und Widerspruchsbescheid vom 25.06.1996 die Gewährung einer Verletztenrente ablehnte. Das Sozialgericht Ulm wies die hiergegen gerichtete Klage mit Urteil vom 15.05.1998 ab. Das LSG Baden- Württemberg (L 10 U 2069/98) verurteilte die Beklagte nach Einholung augenärztlicher Gutachten am 19.06.2002 dazu, dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH zu gewähren. Mit Bescheid vom 24.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2005 wurde dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH wegen der vom LSG festgestellten Unfallfolgen auf augenärztlichem Fachgebiet bewilligt. Weitere Unfallfolgen, insbesondere die vom Kläger geltend gemachten Beschwerden an der HWS, lehnte die BG nach Einholung weiterer Gutachten ab.
Der Kläger erhob am 17.03.2005 gegen den genannten Bescheid Klage zum Sozialgericht Augsburg (Az.: S 5 U 101/05) wegen der Anerkennung weiterer Unfallfolgen, der Gewährung einer Verletztenrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit als 30 vH und eines früheren Rentenbeginns. Das SG trennte mit Beschluss vom 17.02.2006 den Rechtstreit hinsichtlich der geltend gemachten weiteren Unfallfolgen und der Höhe der MdE ab (weiteres Az S 5 U 46/06). Mit Gerichtsbescheid vom 2. März 2007 wies das SG die Klage S 5 U 101/05 hinsichtlich des früheren Rentenbeginns ab. Die hiergegen zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhobene Berufung (Az.: L 2 U 113/07) nahm der Kläger am 23.03.2009 zurück.
Hinsichtlich der Anerkennung weiterer Unfallfolgen und einer Verletztenrente nach einer höheren MdE wies das SG die Klage mit Urteil vom 2. Juli 2007 (S 5 U 46/06) ab. Die hiergegen gerichtete Berufung L 2 U 268/07 vom 16.07.2007 wies das LSG mit Urt...