Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfeanspruch. Wohnsitz im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches. mehrere Wohnsitze. polizeiliche Meldung. Wohnortbesichtigung. erleichterte Voraussetzung nach § 428 SGB 3. Arbeitsfähigkeit. postalische Erreichbarkeit. Nachsendeauftrag. Erfüllung der Vorfrist des § 190 Abs 1 Nr 4 SGB 3
Leitsatz (amtlich)
1. Die Unterhaltung eines Wohnsitzes (sowie auch eines gewöhnlichen Aufenthaltes) erfordert ein reales Verhalten in Bezug auf einen Lebensmittelpunkt; es muss ein realisierbarer Wille vorhanden sein (vgl BSG vom 10.12.1985 - 10 RKg 14/85 = SozR 5870 § 2 Nr 44). Die Begründung und Innehabung von gleichzeitig mehreren Wohnsitzen ist denkbar (vgl BSG vom 27.4.1978 - 8 RKg 2/77 = SozSich 1978, 221). Vorauszusetzen ist lediglich, dass bei mehreren Wohnsitzen gleichwertige Beziehungen zu jedem Wohnsitz bestehen müssen. Als ein Merkmal für einen Wohnsitz fungiert die polizeiliche Meldung. Ein Wohnsitz kann trotz sich aus einer Wohnortbesichtigung durch den Außendienst der Beklagten ergebender Umstände zu bejahen sein.
2. Gelten die erleichterten Voraussetzungen des Leistungsbezugs nach § 428 Abs 1 S 1 SGB 3, liegt Arbeitsfähigkeit iS des § 119 SGB 3 bereits dann vor, wenn der Arbeitslose einen Postnachsendeantrag gestellt hat (vgl BSG vom 30.6.2005 - B 7a/7 AL 98/04 R = BSGE 95, 43 = SozR 4-4300 § 428 Nr 2).
3. Unter Vorbezug von Arbeitslosengeld iS des § 190 Abs 1 Nr 4 SGB 3 ist nicht dessen tatsächliche Auszahlung, sondern dessen Bewilligung durch Bescheid zu verstehen. Der Arbeitslosengeldvorbezug während eines einzigen Tages innerhalb der Vorfrist reicht aus. Auch braucht der Bezug von Anschlussarbeitslosenhilfe nicht unmittelbar dem Bezug von Arbeitslosengeld zu folgen.
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21. September 2006 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe - Alhi - für den Zeitraum vom 01.09.2004 bis 31.12.2004 hat.
Die 1944 geborene, verheiratete, deutsche Klägerin wohnte seit 31.08.1995 in Österreich. Sie war vom 13.06.2000 bis 30.06.2002 als Fernmeldehelferin und Löterin in der Firma ihres Ehemannes (E) in N. bei B-Stadt (Fa. E.) vollschichtig beschäftigt. Während ihrer beruflichen Tätigkeit wohnte sie nach eigenen Angaben in B-Stadt im Hotel und fuhr hin und wieder nach Österreich zurück. In der Zeit vom 11.07.2002 bis 31.10.2002 und vom 25.11.2002 bis 28.02.2003 bezog sie in Österreich Arbeitslosengeld.
Im März 2003 beantragte sie unter einer Adresse in G. Arbeitslosengeld und zog dann nach W. um. Für den Zeitraum vor dem 08.05.2003 stand der Klägerin Arbeitslosengeld nicht zu (vgl. dazu Senatsurteil vom 27. November 2008, L 8 AL 114/06). Für den Zeitraum ab 08.05.2003 hat die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld mit bestandskräftigem Bescheid vom 28.05.2003 bewilligt (dazu im Einzelnen unten II 4). Aufgrund eines Antrags vom 20.06.2003 bezog die Klägerin das Arbeitslosengeld unter den erleichterten Voraussetzungen des § 428 Sozialgesetzbuch - SGB - III.
Mit Veränderungsmitteilung vom 31.12.2003 meldete die Klägerin einen Umzug vom 31.12.2003 nach L. (L), Österreich, und legte eine Abmeldebescheinigung des Einwohnermeldeamts W. mit dem selben Auszugsdatum vor. Am 30.06.2004 meldete sie sich unter der Adresse in L. erneut arbeitslos. Bereits am 27.04.2004 hatte die Beklagte die Ortsabwesenheit der Klägerin vom 03.05.2004 bis 15.08.2004 (15 Wochen) genehmigt. Den Antrag vom 30.06.2004 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.08.2004 ab. Die Klägerin habe ihren Wohnsitz in L. Aufgrund von europarechtlichen Vorschriften habe die Klägerin keinen Anspruch, weil sie in der Rahmenfrist von sechs Jahren nicht mindestens fünf Jahre im anderen Vertragsstaat beschäftigt gewesen sei.
Am 01.09.2004 meldete sich die Klägerin unter der Adresse G., F. (F.) erneut arbeitslos und stellte einen neuen Antrag auf Bewilligung von Alhi. Am selben Tag hatte sie sich beim Einwohnermeldeamt F. unter der genannten Adresse polizeilich gemeldet. Ebenfalls am 01.09.2004 genehmigte die Beklagte die Ortsabwesenheit der Klägerin vom 06.09.2004 bis 17.12.2004. Ausweislich der Beklagtenakten erhielt die Beklagte am 17.11.2004 von der Deutschen Post eine Anschriftenberichtigung mit einem die Klägerin betreffenden Vermerk des Nachsendezentrums "Empfänger verzogen nach Postfach ... M.".
Mit Bescheid vom 04.11.2004 (Widerspruchsbescheid vom 07.01.2005) lehnte die Beklagte den Alhi-Antrag ab. Die Klägerin sei zwar in F. gemeldet, jedoch hätten Ermittlungen ergeben, dass die Klägerin weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in F. habe. Sie habe sich nach den vorliegenden Unterlagen am 01.09.2004 in der Geschäftsstelle der Beklagten in W. arbeitslos gemeldet und Arbeitslosenhilfe beantragt und als Adresse F., G. 27, angegebenen. Aus begrün...