Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs. Fortführung eines durch Vergleich beendeten Verfahrens. Wirksames Zustandekommen und Anfechtung eines Prozessvergleichs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Prozessvergleich hat eine Doppelnatur. Er ist einerseits ein materiellrechtlicher Vertrag und andererseits eine Prozesshandlung, die die Beendigung des Rechtsstreits bewirkt.

2. Die in § 126 BGB geregelte Schriftform gilt nicht für einen Vergleichsvertrag.

3. § 278 Abs. 6 ZPO ist auf einen in der mündlichen Verhandlung protokollierten Vergleich nicht anwendbar.

4. Die Fortführung eines durch Vergleich beendeten Klageverfahrens ist möglich, wenn der Vergleich nicht wirksam zustande gekommen ist oder der Vergleich wirksam nach §§ 119 ff. BGB angefochten wurde. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, hat das Gericht im Fall eines Antrags eines Beteiligten auf Fortführung des Klageverfahrens die Beendigung des Rechtsstreits festzustellen. Eine materielle Prüfung der geltend gemachten Leistungsansprüche ist dann ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 101 Abs. 1; SGB X § 54; BGB §§ 779, 126, § 119 ff.; ZPO § 278 Abs. 6

 

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Berufungsverfahren L 7 AS 188/08 durch Vergleich beendet wurde.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren vom Beklagten verschiedene Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Kläger zu 1 ist mit der Klägerin zu 2 verheiratet, Kläger zu 3 ist der gemeinsame Sohn. Sie beziehen sei Mai 2005 laufende Leistungen vom Beklagen und führten in diesem Zusammenhang zahlreiche Widerspruchs- und Gerichtsverfahren.

Am 29.09.2011 erfolgte eine öffentlichen Sitzung des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) zu dem Berufungsverfahren L 7 AS 188/08 und den weiteren Berufungsverfahren L 7 AS 468/08, L 7 AS 33/09 und L 7 AS 856/10. In diesen Verfahren waren vor allem die Kosten der Unterkunft streitig. Die drei Kläger waren zur Sitzung ohne ihren bevollmächtigten Rechtsanwalt erschienen. Dieser hatte zuvor schriftlich sein Nichterscheinen mitgeteilt und dass die Kläger ohne ihn verhandeln wollten.

Am 29.09.2011 wurde von den Beteiligten folgender Vergleich geschlossen:

"Die Beteiligten einigen sich auf folgenden

V e r g l e i c h :

1. Der Beklagte zahlt den Klägern eine Einmalsumme von 4.000,- € und verzichtet auf die Rückforderung der bereits für die Heizungsreparatur ausbezahlten 1.213,13 €. Darüber hinaus erkennt der Beklagte für einen Umzug in A-Stadt eine Bruttokaltmiete von 418,- € für 2 Personen als angemessen an. Auf dieser Grundlage wird über künftige KdU sowie eine Zusicherung bei einem Umzug innerhalb A-Stadt entschieden.

2. Die Kläger nehmen das Angebot unter 1. an und erklären sämtliche offenen Verfahren für sämtliche Bewilligungszeiträume ab Leistungsbezug bei der Beklagten bis einschließlich 31.03.2012 für erledigt. Dies betrifft u. a. offene Widerspruchsverfahren, offene Verfahren vor dem Sozialgericht und auch die offenen Verfahren vor dem Bayer. Landessozialgericht.

3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

4. Die Beteiligten erklären übereinstimmend den Rechtsstreit für erledigt, ebenso alle unter Ziffer 2 des Vergleichs genannten Verfahren.

- vorgelesen und genehmigt -"

Das Protokoll wurde vorgelesen und vom Vorsitzenden Richter und der Urkundsbeamtin unterzeichnet.

Am 01.06.2012 haben die Kläger einen Antrag auf Weiterführung des Berufungsverfahrens L 7 AS 188/08 gestellt. Es fehle an einem gerichtlichen Beschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO, es fehle an der nach § 126 BGB erforderlichen Schriftform und die Willenserklärung zum Vergleich werde nach § 119 Abs. 2, § 123 Abs. 1 BGB angefochten.

Als Anfechtungsgrund wurde vorgetragen, dass die Kläger ihre Zustimmung zu dem Vergleich an eine zukünftige Rücksichtnahme des Beklagten auf die herabgesetzte psychische Belastbarkeit der Klägerin zu 2 gebunden hätten, zu der der Beklagte bereit gewesen sei. Nach dem Beginn des Studiums des Klägers zu 3 habe das Ehepaar im Februar 2012 eine neue Wohnung mit einer Bruttokaltmiete von 450,- Euro gefunden und um Zustimmung zum Abschluss des neuen Mietvertrags gebeten. Dies habe der Beklagte abgelehnt. Die neue Wohnung habe nicht angemietet werden können. Außerdem hätten sie dem Vergleich nicht zugestimmt, wenn sie gewusst hätten, dass alle zurückliegenden Rechtsfragen erneut geprüft werden müssten.

Die Kläger beantragen,

den Vergleich vom 29.09.2011 für rechtsunwirksam zu erklären, das Berufungsverfahren L 7 AS 188/08 fortzuführen und die in diesem Verfahren beantragten weiteren Leistungen zuzusprechen.

Der Beklagte beantragt,

festzustellen, dass das Verfahren L 7 AS 188/08 durch Vergleich beendet wurde.

 

Entscheidungsgründe

Streitgegenstand ist die von den Klägern begehrte Fortführung des Berufungsverfahrens L 7 AS 188/08, die Änderung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Regensburg vom 23. April 2008, Az. S 13 AS 610/06, und die Gewäh...

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