Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss wegen fehlender Erreichbarkeit. Auslandsaufenthalt ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners. Bezug von Arbeitslosengeld II unter erleichterten Voraussetzungen. Ortsabwesenheit. Rücknahme der Bewilligung. Grob fahrlässige Verletzung der Mitteilungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Auch Leistungsberechtigte, die Arbeitslosengeld II unter den erleichterten Bedingungen nach § 65 Abs 4 SGB 2 iVm § 428 SGB 3 beziehen, werden vom personellen Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 4a SGB 2 erfasst.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 4a, § 65 Abs. 4; EAO § 2; SGB III §§ 428, 330 Abs. 2-3, § 335 Abs. 1, 5; SGB X § 45 Abs. 2 S. 3 Nrn. 2-3, § 48 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2, 4, § 50 Abs. 1
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.04.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 18.05.2009 bis 27.09.2009 und vom 04.07.2010 bis 09.10.2010, die Erstattung von Leistungen iHv insgesamt 5.496,19 € und eine Aufrechnung.
Die Klägerin ist ukrainische Staatsangehörige und bezieht vom Beklagten seit 01.01.2005 Alg II. Auf ihren Fortzahlungsantrag vom 19.12.2008, in dem sie den Erhalt des Merkblattes "SGB II - Grundsicherung für Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld)" und dessen Kenntnis unterschriftlich bestätigte, bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 21.01.2009 idF des Änderungsbescheides vom 06.06.2009 Alg II iHv 582,53 € monatlich (Februar bis Juni 2009) bzw. 589,53 € (Juli 2009). Auch für die Folgezeiträume vom 01.08.2009 bis 31.01.2010 (Bescheid vom 24.06.2009 idF des Änderungsbescheides vom 14.07.2009), vom 01.02.2010 bis 31.07.2010 (Bescheid vom 05.01.2010) und vom 01.08.2010 bis 31.10.2010 (Bescheid vom 22.06.2010) bewilligte der Beklagte jeweils Alg II iHv 589,53 € bzw. ab 01.08.2010 iHv 589,68 € monatlich. In den Bewilligungsbescheiden war der Hinweis enthalten, dass eine Ortsabwesenheit mit dem persönlichen Ansprechpartner vorab abzustimmen sei und eine unerlaubte Abwesenheit zum Wegfall und zur Rückforderung des Alg II führen könne.
Im Rahmen einer persönlichen Vorsprache der Klägerin am 14.03.2012 stellte der Beklagte anhand der an der polnischen Ostgrenze angebrachten Ein- und Ausreisestempel im Reisepass der Klägerin fest, dass sie sich in der Zeit vom 19.05.2009 bis 26.09.2009 und vom 05.07.2010 bis 08.10.2010 in der Ukraine aufgehalten habe. Mit Schreiben vom 15.03.2012 hörte er deshalb die Klägerin zu einer Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeiträume vom 18.05.2009 bis 27.09.2009 und vom 04.07.2010 bis 09.10.2010, einer entsprechenden Rückforderung und einer evtl. beabsichtigten Aufrechnung an. Bei den Ein- und Ausreisedaten in die bzw. aus der Ukraine sei jeweils ein Tag hinzugerechnet worden, weil im Hinblick auf den Grenzübertritt an der Ostgrenze Polens davon auszugehen sei, dass die Reise bereits einen Tag früher begonnen bzw. einen Tag später beendet worden sei. Mit Bescheid vom 10.04.2012 idF des Änderungsbescheides vom 07.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2012 hob der Beklagte sodann die Bewilligung von Alg II für die Zeit vom 18.05.2009 bis 27.09.2009 und vom 05.07.2010 bis 08.10.2010 auf, forderte die Erstattung überzahlter Leistungen iHv 5.496,19 € einschließlich der Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung und verfügte eine Aufrechnung im Umfang von 100 € monatlich ab 01.05.2012. Aufgrund der ungenehmigten Ortsabwesenheiten sei in den genannten Zeiträumen der Anspruch auf Alg II entfallen. Die Klägerin habe insofern wesentliche Angaben nicht oder verspätet gemacht und damit die Überzahlung von Leistungen verursacht. Die Rücknahme der Bewilligungen ergebe sich aus § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Im Hinblick auf die Aufrechnung habe man von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht. Anhaltspunkte gegen eine Aufrechnung seien weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Klägerin hat dagegen beim Sozialgericht Nürnberg (SG) Klage erhoben. Es bestehe eine Vereinbarung über die sog. "58er-Regelung" nach § 65 Abs 4 SGB II iVm § 428 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) vom 26.06.2007. Der Beklagte hätte jedenfalls gesondert über die Folgen einer unabgestimmten Ortsabwesenheit belehren müssen. Es liege weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vor. Mit Gerichtsbescheid vom 02.04.2014 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe sich ohne Zustimmung ihres persönlichen Ansprechpartners in "Polen" aufgehalten. Die jeweiligen Reisetage am 18.05.2009, 27.09.2009, 04.07.2010 und 09.10.2010 seien ebenfalls als Tage der Ortsabwesenheit zu werten. Der Leistungsanspruch der Klägerin sei nach § 7 Abs 4a SGB II ausgeschlossen gewesen. Der Bezug vo...