Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. frühzeitiger Antrag auf Arbeitslosengeld II für die Zeit nach Haftentlassung. Möglichkeit der Antragsrücknahme wegen Bezugs von Überbrückungsgeld nach Haftentlassung. Einkommens- oder Vermögensberücksichtigung. Verschiebung des Leistungsantrags. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Hilfebedürftigkeit. Bekanntgabe. Bestandskraft. Dispositionsfreiheit
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist umstritten, ob ein Antrag auf Arbeitslosengeld II nur bis zum Zugang des Antrags, bis zur Wirksamkeit (Bekanntgabe) der Entscheidung der Behörde oder bis zur Bestandskraft des Bescheids zurückgenommen werden kann.
2. Ein erstmaliger Leistungsantrag kann zumindest bis zur Wirksamkeit des Bescheides zurückgenommen werden, auch wenn dadurch ein Mittelzufluss wegen des Zuflussprinzips als anrechnungsfreies Vermögen zu werten ist statt als anrechenbares Einkommen.
3. Zur Verschiebung eines Leistungsantrags im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bei nicht durchgeführter Spontanberatung.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, § 9 Abs. 1, §§ 11-12, 37 Abs. 2, § 41 Abs. 1; BayStVollzG Art. 51 Abs. 1; SGB X § 39
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Juni 20012 und der Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit von 05.09.2009 bis 30.09.2009 Arbeitslosengeld II in Höhe von 767,- Euro zu bezahlen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt für einen Teil des Septembers 2009 Arbeitslosengeld II, obwohl er am 04.09.2009 zur Haftentlassung Überbrückungsgeld erhalten hatte.
Der 1959 geborene alleinstehende Kläger war von September 2008 bis 04.09.2009 in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert. Bereits Anfang August 2009 stellte er von der Haft aus beim Beklagten einen Antrag auf Arbeitslosengeld II ausdrücklich für die Zeit "ab dem Tag der Entlassung". Als Vermögen gab er lediglich ein Sparguthaben von 17,- Euro an. Der Kläger erhielt am Entlassungstag, dem 04.09.2009, von der JVA einen Betrag von 1.091,74 Euro ausgezahlt. Darin waren 1.017,98 Euro Überbrückungsgeld enthalten.
Für die angemietete Wohnung hatte der Kläger im September 2009 eine Grundmiete von 411,81 Euro, Nebenkosten von 61,- Euro und Heizkosten von monatlich 60,- Euro, zusammen 532,81 Euro zu zahlen. Warmwasser war in den Heizkosten enthalten.
Mit Bescheid vom 23.09.2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei wegen des Überbrückungsgeldes nicht hilfebedürftig. Später wurde dem Kläger Arbeitslosengeld II ab 01.10.2009 von monatlich 871,41 Euro bewilligt.
Der Bevollmächtigte des Klägers erhob gegen den Ablehnungsbescheid am 08.10.2009 Widerspruch. Der Kläger habe das am Entlassungstag auszuzahlende Überbrückungsgeld zur Bestreitung von Kosten aus dem Strafverfahren einsetzen müssen. Vorgelegt wurde hierzu eine Rechnung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2008 mit Gerichtskosten für drei Instanzen und Rechtsanwaltsvergütung über insgesamt 3.027,52 Euro sowie eine Stundungsverfügung bis zur Haftentlassung.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28.05.2010 als unbegründet zurückgewiesen. Das Überbrückungsgeld sei als einmalige Einnahme gemäß § 11 Abs. 1 SGB II anzurechnen. Die Zahlung sei im September nach Antragstellung zum 04.09.2009 zugeflossen und in diesem Monat als Einkommen zu berücksichtigen. Es handle sich nicht um Vermögen, weil die Zahlung im Bedarfszeitraum (Tag der Antragstellung) erfolgte. Die Schuldverpflichtungen könnten nicht berücksichtigt werden - das Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) trage nicht zur Schuldentilgung bei.
Der Kläger erhob am 30.06.2010 Klage zum Sozialgericht München und begehrte Leistungen für den Zeitraum vom 05.09.2009 bis 30.09.2009. Der Kläger habe Leistungen für die Zeit nach der Haftentlassung beantragt. Das Überbrückungsgeld sei aber am Entlassungstag, also nach Art. 18 Abs. 1 BayStVollzG am letzten Hafttag, ausgezahlt worden. Es handle sich daher nicht um Einkommen. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger zu Protokoll, dass er nach seiner Erinnerung am 07.09.2009 knapp 1.000,- Euro bei der Gerichtskasse in A-Stadt bar eingezahlt habe. Auf den Restbetrag zahle er monatlich 5,- Euro ab.
Mit Urteil vom 27.06.2012 wies das Sozialgericht München die Klage ab. Das Überbrückungsgeld sei Einkommen, weil der Antrag auf Leistungen bereits für den 04.09.2009 ("ab dem Tag der Entlassung") gestellt wurde und dem Kläger die Zahlung an diesem Tage zugeflossen sei. Die Zahlung des Überbrückungsgeldes um die Mittagszeit gelte für den ganzen Tag. Die einmalige Einnahme sei im Zuflussmonat zu berücksichtigen, § 4 i.V.m. § 2 Abs. 4 Arbeitslosengeld II-Verordnung (Alg II-V). Der Bedarf sei durch das Überbrückungsgeld abgedeckt, so da...