Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Erstattungsstreit über zahnärztliche Vergütung nach Krankenkassenwechsel. Versichertenkarte baut auf der Mitgliedschaft auf und hat rechtsdienende, nicht aber rechtsbegründende Funktion. Vereinbarung und Erbringung der vertragszahnärztlichen Gesamtvergütung begründet keinen Schutz vor einer Zahlungspflicht nach § 105 SGB 10. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung
Leitsatz (amtlich)
Die Gerichte sind nicht ermächtigt, ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen; vielmehr ist es ihre Aufgabe, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke zu füllen.
Orientierungssatz
1. Die Gesundheits-/Krankenversichertenkarte ist kein Inhaberpapier, eine § 793 BGB entsprechende Regelung ist dem SGB 5 unbekannt. Die Karte begründet auch im Rechtsverkehr keine Rechtsscheinhaftung, welche über die Wahl- und Mitgliedschaftsregelungen hinausgehen oder diese modifizieren. Die Regelungen in §§ 291, 291a, 292 SGB 5 bauen vielmehr auf der Mitgliedschaft auf und haben deshalb rechtsdienende, nicht aber rechtsbegründende Funktion.
2. Hat eine Krankenkasse mit der Vereinbarung und Erbringung der vertragszahnärztlichen Gesamtvergütung für ein Abrechnungsquartal ihrer Vergütungspflicht für die zu Gunsten ihrer Versicherten erbrachten zahnärztlichen Sachleistungen genüge getan, erwächst hieraus jedoch kein Schutz vor einer Zahlungspflicht gem § 105 SGB 10.
3. Zum Leitsatz vgl BVerfG vom 11.7.2012 - 1 BvR 3142/07 = BVerfGE 132, 99 = juris RdNr 74f.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.04.2014 verurteilt, der Klägerin 117,64 € zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.
III. Der Streitwert der Berufung wird auf 117,64 € festgesetzt.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in einem Musterverfahren gemäß § 114 a SGG um die Kostenträgerschaft für eine zahnärztliche Vergütung einer Behandlung des Versicherten T. M. (im Folgenden: TM).
1. Der 1990 geborene und in B./Opf. wohnende TM war seit 1.11.2008 auf Grund Beschäftigung gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der IKK Thüringen - trotz des Wohnsitzes im Freistaat Bayern. Um die Krankenkasse zu wechseln und Mitglied der Beklagten zu werden kündigte TM am 10.12.2009 "zum 28.2.2010". Die Beklagte bestätigte diese Kündigung durch Schreiben vom 21. und 29.12.2009, wegen der gesetzlichen Mindest-Bindungszeit von 18 Monaten jedoch erst mit Wirkung zum 30.4.2010. Die Wahlrechtserklärung des TM zu Gunsten der Klägerin datiert vom 21.1.2010 und sollte zum 1.3.2010 Wirkung entfalten. Der Arbeitgeber des TM ging von einem Kassenwechsel zum 1.3.2010 aus und erstattete die beitragsrechtlichen Arbeitgebermeldungen für die Zeit 1.3.2010 bis 30.4.2010 gegenüber der Klägerin, welche dieser für die zuständige Einzugsstelle hielt. Tatsächlich waren die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Mitgliedschaftswechsel des TM von der Beklagten zur Klägerin erst zum 30.4./1.5.2010 erfüllt. Im Nachhinein erstellte der Arbeitgeber die entsprechenden Meldekorrekturen am 4.5.2010 sowie 25.6.2010.
Die Klägerin war von einem früheren Mitgliedschaftswechsel ausgegangen und stellte
am 29.1.2010 eine Krankenversicherungskarte für TM aus. Dieser nahm am 16.4.2010 zahnärztliche Leistungen des Zahnarztes T. F., L-Straße, R. in Anspruch. Wegen der Einzelfalldarstellung der zahnärztlichen Leistung wird auf Blatt 171 der sozialgerichtlichen Akte Bezug genommen, §§ 153 Abs. 1, 136 Abs. 2 SGG. In der Abrechnung des zweiten Quartals 2010 vergütete die Beigeladene dem Zahnarzt zu Lasten der Klägerin 117,64 €.
Mit Schreiben vom 23.11.2010 verlangte die Klägerin - ohne Erfolg - von der Rechtsvorgängerin der Beklagten diesen Betrag im Wege der Erstattung einer irrtümlich gewährten Leistung.
2. Mit Klage vom 20.12.2010 zum Sozialgericht München hat die Klägerin dieses Erstattungsbegehren zusammen mit gleichgelagerten Erstattungsverlangen für 23 weitere Versicherte geltend gemacht. Die Beklagte hat eingewandt, die Regelungen gem. §§ 83, 85 SGB V schlössen eine Erstattung aus. Sie habe eine Gesamtvergütung für alle zahnärztlichen Vergütungen wirksam vereinbart und durchgeführt. Über diesen Gesamtvergütungsbetrag hinaus könne und dürfe sie keine zusätzlichen Vergütungen für zahnärztliche Leistungen zahlen. Denn mit der Gesamtvergütung seien alle zahnärztlichen Leistungen abgegolten, die für ihre Versicherten im Gesamtvergütungszeitraum erbracht worden seien. Eine Regelung wie in § 84 Abs. 4e SGB V bestehe insoweit nicht. Zudem hat die Beklagte vorgebracht, sie habe wirksam für ihre Versicherten eine Kopfpausschale zur Abgeltung der zahnärztlichen Leistungen vereinbart.
Dieser Wertung hat die Klägerin unter Vorlage der einschlägigen Vergütun...