Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialversicherung. Einzugsstelle. Geltendmachung von Beitragsnachforderungen im Regresswege. keine Rechtsgrundlage für beitragsrechtliche Haftungsbescheide gegenüber handelnden Personen einer aufgelösten Gesellschaft bürgerlichen Rechts

 

Leitsatz (amtlich)

Die Einzugsstellen müssen vor Anspruchsverjährung Klage vor den Zivilgerichten erheben, um ihrer Pflicht nachzukommen, Beitragsnachforderungen im Regresswege gegenüber den verantwortlichen Personen auf Arbeitgeberseite geltend zu machen. Denn für Haftungsbescheide hat der Gesetzgeber im SGB keine Rechtsgrundlage vorgesehen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 25.09.2019; Aktenzeichen B 12 KR 28/19 R)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 14.08.2018 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte die Klägerin im Wege eines Haftungsbescheides in Anspruch nehmen durfte für Forderungen von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen gegen eine vormalige Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), deren Mitgesellschafterin die Klägerin war.

1. Die Klägerin und ihr Ehemann R. A. betrieben ab 01.01.2002 bis 30.06.2009 in der Rechtsform einer GbR ("A. GbR") ein Unternehmen im Bereich Handel mit Haushaltswaren, ab 2003 mit dem Ankauf und Verkauf von Telekommunikationsanträgen und seit 01.01.2008 in der Verlagswerbung. Die Vermittlung von Abonnements und Telefonverträgen erfolgte durch Haustürwerbung (sog. "Drückerkolonnen"), durch eine Vielzahl von Beschäftigten, für die keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden sind. Die Werber wurden vielmehr offiziell als selbständige Handelsvertreter geführt. Außerdem beschäftigte die GbR jedenfalls ab 2002 sog. "Teileleute" mit dem Vertrieb von Sortimentsartikeln der Firma Z. und Reinigungsmittel der Firma L.. Auch dies erfolgte durch Haustürwerbung auf Provisionsbasis.

Die Werber und Teileleute übten ihre Tätigkeit an fünf bis sechs Tagen in der Woche aus und wurden mit Hilfe von Fahrzeugen, welche die "A. GbR" zur Verfügung gestellt hatte, in den jeweiligen Ort gebracht, in dem die Verträge herbeigeführt bzw. Verkäufe getätigt werden sollten. Die Fahrer teilten die Werber und Teileleute ein und wiesen ihnen bestimmte Straßenzüge zu. Werber und Teileleute wurden teilweise mehrmals täglich, mindestens jedoch abends kontrolliert, ob sie die gewünschten Verkaufszahlen erreicht hatten.

Die Provisionsabrechnungen erfolgten wöchentlich. Dabei wurde wöchentlich eine Pauschale von 210 € einbehalten für Verpflegung und Unterkunft. Das kostenpflichtige Wohnen in der zur Verfügung gestellten Unterkunft war zwingend. In vielen Fällen kam es deshalb zu keiner Auszahlung oder von nur 30 € Vorschuss. Hierdurch haben die Werber und Teileleute laufend Schulden aufgebaut und gerieten so in eine persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit zur GbR.

Das Hauptzollamt L-Stadt, Finanzkontrolle Schwarzarbeit Standort P., leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vorenthaltung und Veruntreuung von Arbeitsentgelt ein. Dies führte zur Verurteilung der Klägerin und ihres Ehemannes durch das Amtsgericht L-Stadt mit Urteil vom 28.11.2011 (Az. 01 Ls xxx, rechtskräftig) wegen Vorenthaltens und Veruntreuung von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB.

Im Anschluss an die Ermittlungen des Hauptzollamts erließ die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) am 21.09.2011 zwei Betriebsprüfungsbescheide, jeweils adressiert an die Gesellschafter der "A. GbR" persönlich, mit dem sie die Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1.196.600,94 € für den gesamten Zeitraum nachforderte. Der Forderungsanteil der Beklagten als Einzugsstelle betrug 22.304,98 € (Beiträge und Umlagen zuzüglich Säumniszuschläge). Hiergegen erhob die GbR Widerspruch und beantragte eine Aussetzung der Vollziehung, der nicht zugestimmt wurde. In der Zwischenzeit leitete u.a. die Beklagte Vollstreckungsmaßnahmen ein und erwirkte am 19.06.2012 einen Haftbefehl gegen die Klägerin.

Im Verfahren S 13 R 5022/12 von Herrn R. A. vor dem Sozialgericht Landshut hob die beklagte DRV Bund in der mündlichen Verhandlung vom 11.08.2014 den Bescheid vom 21.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26.04.2012 auf. Die dortige Vorsitzende hatte darauf hingewiesen, dass der Bescheid zu Unrecht an den Kläger adressiert war, er hätte vielmehr gegenüber der GbR erlassen werden müssen.

Daraufhin erließ die DRV Bund am 19.03.2015 einen Nachforderungsbescheid über 1.196.600,94 € gegenüber der GbR. Wegen der Einzelheiten des Bescheides wird auf Blatt 130-141 der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, wegen des auf die Beklagte als zuständige Krankenkasse/Einzugsstelle entfallenden Anteils der jeweiligen Werber bzw. Teileleute auf Blatt 120-129. Auch gegen diesen Bescheid wurde Widerspruch erhoben, den die Deutsche Rentenversicherung Bund zurückwies mit Widerspruchsbescheid vom 18....

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge