Entscheidungsstichwort (Thema)

Bußgeldverfahren. Geschwindigkeitsüberschreitung. Bußgeld. Bußgeldbescheid. Einspruch. Einspruchsverwerfung. Abwesenheitsurteil. Verwerfungsurteil. Urteilsgründe. Rechtsbeschwerde. Zulassungsrechtsbeschwerde. Gehör. Gehörsverstoß. Gehörsrüge. Prozessgrundrecht. Verfahrensrüge. Begründung. Begründungsanforderungen. Rügeanforderungen. Entschuldigung. Entschuldigungsgrund. Urlaub. Terminsbestimmung. Terminsverlegung. Terminsverlegungsgesuch. Terminsverlegungsantrag. Verfassungsbeschwerde. Bescheidung. Verbescheidung. Verteidigung. Verteidigungsinteresse. Vorrang. mutwillig. Gehörsverletzung durch Nichtbescheidung eines Terminsverlegungsantrags

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG muss sich mit möglichen Entschuldigungsgründen des Betroffenen auseinandersetzen.

2. Wird ein Terminsverlegungsantrag des Verteidigers weder durch Beschluss zurückgewiesen noch in einem Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG erwähnt, liegt in dieser Nichtberücksichtigung bzw. Nichterörterung des Entschuldigungsvorbringens nicht nur ein Verstoß gegen einfaches Verfahrensrecht, sondern zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG (Fortführung von BayObLG, Beschl. v. 11.01.2001 - 2 ObOWi 607/00 = ZfSch 2001, 186 = BeckRS 2001, 10226).

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 3c; OWiG § 74 Abs. 2, § 79 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Sätze 1-3, § 80a Abs. 1; StPO § 342 Abs. 2 S. 2, § 344 Abs. 2 S. 2; StVO § 3

 

Verfahrensgang

AG Kelheim (Entscheidung vom 24.06.2022)

 

Tenor

  • I.

    Auf den Antrag des Betroffenen wird dessen Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Kelheim vom 24.06.2022 zugelassen.

  • II.

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das in Ziffer I. genannte Urteil aufgehoben.

  • III.

    Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Kelheim zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt verhängte gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 02.03.2022 wegen einer fahrlässigen Verkehrsordnungswidrigkeit des Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit bei schlechten Sicht- oder Wetterverhältnissen eine Geldbuße in Höhe von 100 Euro. Den Einspruch des Betroffenen verwarf das Amtsgericht Kelheim gemäß § 74 Abs. 2 OWiG mit Urteil vom 24.06.2022. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, den er - wie auch die damit vorsorglich eingelegte Rechtsbeschwerde (§ 80 Abs. 3 Satz 2 OWiG) - unter anderem mit der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör begründet. Durch die rechtsfehlerhafte Verwerfung des Einspruchs gemäß § 74 Abs. 2 OWiG sei ihm die Möglichkeit genommen worden, in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger vorbringen zu lassen, dass vorliegend nicht von einem Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO, sondern allenfalls von einem Verstoß gegen § 30 StVO auszugehen sei. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Stellungnahme vom 13.12.2022 beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen und das Urteil des Amtsgerichts Kelheim vom 24.06.2022 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Kelheim zurückzuverweisen.

II.

Die Sache ist entscheidungsreif. Über den Wiedereinsetzungsantrag, der nach § 342 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG vorrangig zu behandeln ist, wurde rechtskräftig entschieden.

III.

Die im Zulassungsantrag sowie zur Begründung der Rechtsbeschwerde erhobene Gehörsrüge genügt den formellen Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG. Es ist geboten, die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 Nr. 2 OWiG wegen Versagung rechtlichen Gehörs zuzulassen.

1. Der formgerecht erhobenen Verfahrensrüge liegt folgender, durch die Prozessakten bewiesener Verfahrensgang zugrunde: Das Amtsgericht Kelheim bestimmte mit Verfügung vom 11.05.2022 (erstmals) Hauptverhandlungstermin auf den 24.06.2022, wobei die Ladungen dem Betroffenen am 13.05.2022 und seinem Verteidiger am 16.05.2022 zugegangen sind. Mit Schriftsatz vom 16.05.2022, beim Amtsgericht per besonderem Anwaltspostfach (beA) eingegangen am selben Tag, beantragte der Verteidiger Terminsverlegung mit der Begründung, er befinde sich in der Zeit vom 14.06.2022 bis 28.06.2022 im Urlaub. Eine Entscheidung über das Terminsverlegungsgesuch ist nicht erfolgt. Zum Hauptverhandlungstermin am 24.06.2022 erschienen weder der Betroffene noch der Verteidiger. Das Amtsgericht verwarf deshalb den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid vom 02.03.2022 nach § 74 Abs. 2 OWiG. Das Urteil enthielt lediglich den Hinweis auf § 74 Abs. 2 OWiG, ansonsten aber keinerlei Entscheidungsgründe. Dementsprechend fand auch der Terminsverlegungsantrag keine Erwähnung.

2. Nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ist die Aufhebung eines Urteils wegen V...

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