Entscheidungsstichwort (Thema)
Anknüpfungstatsachen. Aufhebung. Auskunftsperson. Beweiswürdigung. dienstliches Wissen. einzelfallbezogen. Wahrnehmung. Enforcement Trailor. entscheidungserheblich. Beweiserhebung. Strengbeweis. förmlich. gerichtskundig. Geschwindigkeitsmessung. Geschwindigkeitsüberschreitung. Hauptverhandlung. Hinweis. Inbegriff. Indiztatsache. lückenhaft. Messtoleranz. Messverfahren. Parallelverfahren. PoliScan FM 1. Privatgutachter. Rechtsbeschwerde. Sachrüge. Sachverständiger. Stufeneffekt. Smear-Effekt. Staatsanwaltschaft. standardisiert. Unmittelbarkeitsgrundsatz. Verfahrensrüge. Verwertung. Vorhalt
Leitsatz (amtlich)
1. Will der Tatrichter dienstliches Wissen, das er außerhalb der Hauptverhandlung erlangt hat, zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung machen, so muss er die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung darauf hinweisen, dass sie der Entscheidung als gerichtskundig zugrunde gelegt werden könnten (Anschl. u.a. an BGH, Beschl. v. 24.09.2015 - 2 StR 126/15 = NStZ 2016, 123).
2. Auf den Einzelfall bezogene Wahrnehmungen des erkennenden Richters aus einer früheren Hauptverhandlung über Tatsachen, die unmittelbar für Merkmale des äußeren oder inneren Tatbestandes erheblich oder mittelbar für die Überführung des Betroffenen von wesentlicher Bedeutung sind (hier: Äußerungen eines technischen Sachverständigen zur Plausibilität des Messwertes in einem Parallelverfahren), dürfen nicht als gerichtskundig behandelt werden (Anschl. u.a. an BGH, Urt. v. 09.12.1999 - 5 StR 312/99 = BGHSt 45, 354).
Normenkette
OWiG §§ 17, 71 Abs. 1, § 77 Abs. 2, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80a; StPO §§ 250, 261, 353; StVG §§ 24-25; OWiG § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerden der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 19.11.2021 mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben; hiervon ausgenommen bleiben jedoch die Feststellungen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen.
II.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt vom 23.04.2021 wurde gegen den Betroffenen wegen einer am 18.03.2021 begangenen fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 66 km/h eine Geldbuße in Höhe von 880 Euro sowie ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten festgesetzt. Auf den Einspruch des Betroffenen verurteilte das Amtsgericht diesen daraufhin am 19.11.2021 zu einer Geldbuße von 240 Euro und verhängte ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von einem Monat mit der Begründung, aufgrund gerichtsbekannter Erkenntnisse aus einem Parallelverfahren bedürfe es eines höheren Toleranzabzugs. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen die Verwertung von Erkenntnissen aus dem Parallelverfahren als gerichtsbekannt und rügt die Beweiswürdigung als lückenhaft. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 22.03.2022 beantragt, das Urteil des Amtsgerichts vom 19.11.2021 auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen unter Aufrechterhaltung der objektiven Feststellungen zur Fahrereigenschaft aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
II.
Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die zulässige Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG, mit der die Einführung von Sachverständigenäußerungen aus einem Parallelverfahren beanstandet wird, hat Erfolg. Auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts kommt es deshalb nicht an.
Die Beweiswürdigung darf nur auf die Erkenntnisse der Hauptverhandlung gestützt werden, in der über den Einspruch des jeweiligen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid entschieden wird. Der Inhalt anderer Hauptverhandlungen, auch solcher gegen andere Betroffene, gehört nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne von § 261 StPO (vgl. nur LR/Sander StPO 26. Aufl. § 261 Rn. 17). Der Tatrichter darf seiner Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage nur die Erkenntnisse zugrunde legen, die er in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises gewonnen hat. Unbeschadet der Möglichkeit eines Vorhalts darf der erkennende Richter dienstliches Wissen, das er außerhalb der Hauptverhandlung erlangt hat, als solches grundsätzlich nicht ohne förmliche Beweiserhebung zum Nachteil des Betroffenen verwerten, so etwa auch Äußerungen eines Sachverständigen in einem anderen Verfahren (vgl. BGHSt 19, 193, 195; 45...