Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgungsverjährung. Verfahrenshindernis. Freibeweisverfahren. Ersatzzustellung. Niederlegung. Zustellungsmangel. Heilung. Wohnung. Nebenwohnung. Lebensmittelpunkt. Zugang. Empfangsberechtigter. Kopie. Scan
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Ersatzzustellung durch Niederlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten erfordert, dass der Betroffene dort tatsächlich wohnhaft ist, ohne dass der melderechtliche Status ausschlaggebend ist.
2. Eine Ersatzzustellung unter dem Nebenwohnsitz setzt voraus, dass der Betroffene entweder den Anschein gesetzt hat, dort tatsächlich aufhältlich zu sein oder sich tatsächlich dort aufgehalten hat (Anschl. an VGH München, Beschl. v. 23.08.1999 - 7 ZB 99.1380 = BayVBl 2000, 403 = BeckRS 1999, 22873).
3. Die Heilung eines Zustellungsmangels setzt den Zugang bei einem tatsächlich Empfangsberechtigten voraus und erfordert wenigstens den Zugang einer Kopie oder eines Scans. Andere Formen der Übermittlung führen aber wegen der Fehleranfälligkeiten derartiger Übermittlungswege grundsätzlich nicht zur Heilung eines Zustellungsmangels (Anschl. an BGH, Beschl. v. 12.03.2020 - I ZB 64/19 = MDR 2020, 750 = WRP 2020, 740 = DGVZ 2020, 121 = GRUR 2020, 776 = ZMR 2020, 803 ).
Normenkette
OWiG § 31 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 33 Abs. 1 Nrn. 1, 9-10, § 79 Abs. 1 Nr. 2, § 51 Abs. 1, 3 S. 3; StPO §§ 206a, 260 Abs. 3, § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; StVG § 26 Abs. 3; ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 1, § 180 S. 1, § 189; BayVwZVG Art. 3 Abs. 2 S. 1, Art. 9
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 23.07.2020 aufgehoben.
II.
Das Verfahren wird eingestellt.
III.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 23.07.2020 wegen einer am 13.08.2019 begangenen fahrlässigen Nichteinhaltung des erforderlichen Abstands zum vorausfahrenden Pkw (bei einer Geschwindigkeit von 140 km/h betrug der tatsächliche Abstand 17 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowerts) entsprechend dem Bußgeldbescheid vom 20.11.2019 zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt sowie ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG verbundenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Mit seiner gegen das Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts und macht insbesondere den Eintritt der Verfolgungsverjährung geltend. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 13.10.2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 23.07.2020 als unbegründet kostenpflichtig zu verwerfen. Hierzu hat sich die Verteidigung mit Gegenerklärung vom 06.11.2020 geäußert.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Einstellung des Verfahrens, da Verfolgungsverjährung eingetreten ist und damit ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis vorliegt.
1. Folgender Verfahrensablauf liegt zugrunde:
Halter des bei dem Verkehrsverstoß festgestellten Fahrzeugs ist der Vater des Betroffenen, der in A gemeldet ist. Dessen Anhörung wurde am 02.09.2019 angeordnet. Nach Erholung eines Lichtbildes des Vaters des Betroffenen wurde am 01.10.2019 der Polizeiposten in A um Ermittlung des Fahrers zur Tatzeit gebeten. Von der Polizei in A wurde unter dem 08.10.2019 mitgeteilt, dass die durchgeführten Ermittlungen über die Meldedaten und Erholung eines Lichtbildes des Betroffenen ergaben, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Betroffene den Pkw geführt haben dürfte. Unter dem 15.10.2019 ordnete daraufhin ein Mitarbeiter des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes die Anhörung des Betroffenen an. Der Bußgeldbescheid wurde am 20.11.2019 erlassen und durch Niederlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten am 22.11.2019 unter der Anschrift in A zugestellt. Der Betroffene war seit 01.08.2019 mit Hauptwohnsitz in F und in A mit einer Nebenwohnung gemeldet.
Die Verteidigerin hat mit am 06.12.2019 beim bayerischen Polizeiverwaltungsamt eingegangenem Schreiben gegen den Bußgeldbescheid vom 20.11.2019 "namens und in Vollmacht des Mandanten" Einspruch eingelegt, ohne eine schriftliche Verteidigervollmacht vorzulegen. Die Akten wurden am 11.02.2020 dem Amtsgericht vorgelegt, wo dann am 08.04.2020 und am 17.04.2020 Termine zur Hauptverhandlung anberaumt worden sind. Eine von der Verteidigerin vorgelegte schriftliche Strafprozessvollmacht wurde vom Betroffenen am 20.04.2020 unterzeichnet. Nach Vortrag der Verteidigerin blieb der in A zugestellte Bußgeldbescheid ungeöffnet und ist dem Betroffenen zu keinem Zeitpunkt bekannt gegeben worden. Sie habe dem Betroffenen den Bußgeldbescheid auch nicht in Textform übermittelt.
2. Das Verfahren ist wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen ( § 260 Abs. 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG ), weil bereits vor Urteilsverkündung Verfolgungsverjährung ( § 31 Abs. 1 Satz 1 OWiG ) eingetreten war.
a) Die Fra...