Leitsatz (amtlich)

›Zum Rechtsfolgenausspruch bei Entziehung Minderjähriger.‹

 

Tatbestand

Der Angeklagte lebte seit Juni 1998 von seiner (deutschen) Ehefrau getrennt. Die elterliche Sorge für den ehelichen, damals dreijährigen Sohn, der bei der Mutter verblieben war, stand beiden Eltern gemeinsam zu; der Angeklagte hatte ein vereinbartes Besuchsrecht. "Übernachten durfte T. beim Angeklagten (nur) einmal; weitere Übernachtungen unterblieben mit der Begründung, das Kind wolle das nicht". Am 10.7.1999 holte der Angeklagte das Kind in Ausübung seines Besuchsrechts und unter Verschweigen seines wirklichen Vorhabens bei der Mutter ab und verbrachte es anschließend in die Türkei. Der Angeklagte hatte den Eindruck gewonnen, seine Ehefrau wolle das von ihm geliebte Kind von ihm fernhalten, und "befürchtete aufgrund der gesamten Umstände, das Sorge- und Umgangsrecht ... zu verlieren". "Einen festen Termin für die Rückführung des Kindes hatte der Angeklagte nicht ins Auge gefasst". Am 20.9.1999 gelang es der Ehefrau des Angeklagten, der Zeugin K., die ihm in die Türkei nachgereist war - ob sie seinen Aufenthalt erst durch eine telefonische Fangschaltung oder, wie der Angeklagte geltend machte, von ihm selbst erfahren hatte, konnte nicht geklärt werden - und die dort mit dem Angeklagten zunächst eine Woche gemeinsam (mit Ausflügen und Strandbesuchen) verbrachte, unter Ausnutzung von dessen zeitweiliger Abwesenheit mit dem Kind nach Deutschland zurückzureisen. Am 9.11.1999 stellte sich der inzwischen in Kenntnis eines gegen ihn ergangenen Haftbefehls ebenfalls nach Deutschland zurückgekehrte Angeklagte in Gegenwart seines Verteidigers dem Ermittlungsrichter. Gleichwohl wurde er in Untersuchungshaft genommen, aus der er erst am 7.11.2000 entlassen wurde. Allerdings war der Haftbefehl vom 12.8.1999 auf den Verdacht eines Verbrechens nach § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB gestützt worden, weil der Angeklagte für die Rückgabe des Kindes Geld gefordert haben sollte.

Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten am 19.5.2000 wegen Entziehung Minderjähriger zur Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monaten. Den Vorwurf eines Verbrechens nach § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB erachtete das Schöffengericht jedoch nicht nur für nicht erwiesen, sondern für "im wesentlichen widerlegt". Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht am 7.11.2000 unter Herabsetzung der Freiheitsstrafe auf 1 Jahr und 6 Monate als im übrigen unbegründet.

Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Dem Landgericht sind in seinem an sich sorgfältig und ausführlich begründeten Urteil Wertungsfehler unterlaufen, die den Strafausspruch weder hinsichtlich der Höhe der erkannten Freiheitsstrafe noch hinsichtlich der Versagung von Strafaussetzung einsichtig und nachvollziehbar erscheinen lassen. Denn auch wenn die Strafzumessung Sache des Tatrichters ist und eine exakte Richtigkeitskontrolle im Hinblick auf den ihm zustehenden Ermessensspielraum ausgeschlossen ist, zumal nur die bestimmenden - also nicht sämtliche - Umstände im Urteil anzuführen sind (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), ist ein Eingreifen des Revisionsgerichts doch immer dann erforderlich, wenn Rechtsfehler vorliegen und/oder wenn sich die Strafe von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit nach unten oder nach oben entfernt, dass ein grobes Missverhältnis von Schuld und Strafe offenkundig ist (BGHSt 29, 319/320; weitere Nachweise bei KK/Engelhardt StPO 4. Aufl. § 267 Rn. 25). Ist eine Strafe sehr hoch oder weicht sie erheblich von den Strafen anderer Gerichte in vergleichbaren Fällen ab, bedarf sie einer Rechtfertigung in den Urteilsgründen, die die Abweichung vom Üblichen an den Besonderheiten des Falls verständlich macht (BGH bei Spiegel DAR 1978, 149; StV 1986, 57).

Gerade der letztgenannten Anforderung genügt das Urteil nicht.

1. In den Jahren 1990 bis einschließlich 1999 sind im Freistaat Bayern insgesamt 75 Verurteilungen wegen Straftaten nach § 235 StGB erfolgt, davon 45 zu Geld- und 30 zu Freiheitsstrafen (Strafverfolgungsstatistik Bayern, herausgegeben vom Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung). In den 30 Fällen einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe wurde in 23 Fällen die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, so dass nur in sieben von insgesamt 75 Fällen eine Vollzugsstrafe verhängt wurde, was einem Anteil von 9 % entspricht. Bezogen auf Freiheitsstrafen von einem Jahr oder mehr ist es sogar nur in drei Fällen, entsprechend einem Anteil von nur 4 % an der Gesamtzahl, zur Versagung von Strafaussetzung gekommen.

An diesen Zahlen wird deutlich, dass sich die vom Landgericht ausgesprochene Strafe sowohl hinsichtlich ihrer Höhe wie auch hinsichtlich der versagten Strafaussetzung an der Obergrenze der in Bayern in den letzten Jahren erfolgten Verurteilungen wegen Entziehung Minderjähriger bewegt.

2. a) Dieses Ergebnis wird von den im Urteil widergegebenen Strafzumessungstatsa...

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